Beuterausch
ihres eigenen Bluts. Das Vieh hat sie ihr knapp über der Hüfte ins Fleisch gestochen – ein unerwarteter Verrat des letzten Mitglieds ihrer untergegangenen Familie. Dafür musste es mit dem Leben bezahlen.
Aber nun hat sie die Witterung eines anderen Lebewesens aufgenommen.
Ein vertrauter Geruch.
Nach Urin. Nach Wolf. Die Höhle wurde von einem Wolf markiert. Erst kürzlich.
Sie weiß, dass der Wolf gewöhnlich nicht ihr Feind ist. Die meisten Wölfe würden vor ihr davonlaufen, statt sich mit einem so unberechenbaren Gegner anzulegen. Aber Wölfe suchen sich in der Regel keine Höhle, es sei denn, sie werfen, doch die Wurfzeit ist vorüber, deshalb ist hier Vorsicht geboten. Leise geht sie ein paar Schritte, hält inne, lauscht. Schleicht näher heran, das Messer mit festem Griff kampfbereit auf Schulterhöhe.
Wieder bleibt sie stehen, als sie das Scharren von Pfoten auf dem Fels hört. Der Wolf erhebt sich. Er ist höchstens drei Meter entfernt.
Dann hört sie das Knurren. Tief und rau vor Entschlossenheit.
Dies ist ein Feind.
Sie sieht den Wolf vor ihrem inneren Auge genau vor sich. Er blickt in ihre Richtung. Die Ohren sind aufgerichtet. Das Fell sträubt sich auf dem kräftigen gekrümmten Rücken, die langen Beine sind zum Sprung gebeugt. Die Lefzen der mächtigen Schnauze sind zu einem Fletschen hochgezogen und entblößen sechs scharfe Schneidezähne und die beiden nach innen gebogenen Reißzähne für den tödlichen Fangbiss.
Er spannt sich an. Sie kann ihn in der Dunkelheit spüren.
Sie weiß, dass er sie ebenfalls spürt. Dass er ihr Blut auf dem Messer riechen kann.
In der Höhle gibt es plötzlich eine ungestüme Bewegung, dann blitzen gelbe Augen und ein graubrauner Körper auf, und sie wirft sich dem Angriff entgegen, dem Sprung nach ihrer Kehle, bückt sich und weicht zur Seite aus, stößt mit dem Messer zu und reißt es in einer einzigen fließenden Bewegung nach unten, sodass der Wolf krachend auf sein Rückgrat zurück in den Schlund der Höhle fällt und seine Pfoten hilflos die Luft zerreißen in dem Versuch, die Klinge zu erreichen, die sich durch seinen Hals gebohrt hat, während sie ihren Vorteil nutzt, das Messer in beide Hände nimmt, sich mit Schultern, Rücken und Unterarmen dagegenstemmt und die Klinge nach oben durch den muskulösen Hals und die Knochen mitten in den Schädel des Wolfs treibt, der ein einziges Mal wie ein getretener Hund winselt und stirbt.
Sie begutachtet ihre Beute.
Der Wolf ist alt. Weiße Haare auf der Schnauze, um die Augen und am Unterkiefer. Es ist ein Rüde. Ein großes Exemplar, es reicht einem Hirsch bis zu den Schultern. Die rechte Vorderpfote ist verstümmelt. Seine Lippen ebenfalls, kürzlich erst vernarbt. Sie öffnet seine Schnauze. Der Gaumen ist ebenfalls verletzt. Der Wolf ist in eine Falle geraten und konnte sich irgendwie herausnagen. Sie bewundert seine Stärke und Wildheit. Das erklärt auch, dass er sich allein in der Höhle verkrochen hat. Die Verletzungen, das hohe Alter.
Der Wolf hat keine Familie.
Eine Last für sein Rudel.
Sie richtet sich auf, geht ein paar Schritte und späht in die Höhle. Nach einer Weile haben sich ihre Augen an die Dunkelheit angepasst. Die Höhle ist nicht tief, ihr Körper passt vielleicht viermal der Länge nach hinein. Am Eingang und am Ende liegen die Wände so dicht beisammen, dass sie beide Seiten zugleich mit den Händen berühren kann – in der Mitte ist die Höhle etwas breiter. Immerhin ist die Decke hoch genug, um bequem darin zu stehen.
Die Höhle ist nicht von Menschen benutzt worden. Kein verstreuter Müll, keine Anzeichen von Feuer. Eine Seltenheit.
Eine gute Höhle.
Sie packt die Vorderbeine des Wolfs und schleift ihn hinein. Dann kniet sie neben der Wunde am Hals nieder und beginnt, ihn langsam bis zum letzten Tropfen auszutrinken.
Gut zwei Stunden später hat sie sich im hinteren Teil der Höhle ein Lager hergerichtet. Aus frischen weichen Pinienzweigen. Nach einer weiteren Stunde hat sie genügend Baumrinde, herabgefallene Äste, Schwemmholz und Steine gesammelt, um Feuer zu machen. Sie schlägt Funken, füttert die Flammen mit Rinde und Zweigen und dann mit dickerem Holz, von dem sie immer drei Scheite kreuzt.
Es ist Zeit für den Wolf.
Sie zieht das Messer aus der Scheide. Morgen wird sie die Klinge wetzen müssen, doch für ihr Vorhaben ist sie noch scharf genug. Sie dreht den Wolf auf den Rücken und sägt durch den Hals, bis sich der riesige Kopf vom Rumpf löst. Sie
Weitere Kostenlose Bücher