Beutewelt 01 - Bürger 1-564398B-278843
Gedächtnis.
Er selbst befand sich als Zuschauer in einem Raum, der einem Gerichtssaal sehr ähnlich sah. Vorne war das Richterpult und die Anklagebank und nur sie waren wie von einem Scheinwerfer beleuchtet. Der Rest des Raumes blieb im schemenhaften Halbdunkel versunken, auch die Sitzreihen der Zuschauer, auf denen Frank als einziger saß. Vorne auf der Anklagebank saßen zwei Personen, die Frank erst nicht genau erkennen konnte, da er sie nur von hinten sah. Hinter dem Richterpult befand sich kein Mensch, es war eher ein Schatten oder ein Geistwesen.
„Die Verhandlung ist eröffnet!“ rief der Schatten. „Ich bitte um Ruhe!“
„Es geht heute um die Strafsache „Die Politik gegen Herrn Rainer Kohlhaas und Frau Martina Günther, geborene Kohlhaas.“
Die beiden Angeklagten drehten sich um und warfen Frank einen ängstlichen Blick zu. Es waren sein Vater und seine Schwester. Schnell wandten sie sich wieder dem Richter zu, denn er begann mit seinen Ausführungen.
Der Zuschauer reckte seinen Kopf vor und versuchte, das Namensschild zu entziffern, das vor dem eigenartigen Richter auf seinem Pult lag. Erst nach angestrengtem Starren erkannte Frank, dass gar kein Name zu sehen waren. Dort stand nur „Die Politik“.
Der Schatten verlas nun eine Fülle von Anklagepunkten und begann dann mit der Befragung der beiden.
„Wir fangen mit Ihnen an, Herr Rainer Kohlhaas“, sprach er mit grollender, tiefer Stimme. „Können Sie sich daran erinnern, sich jemals um die wichtigen Fragen bezüglich meiner Person gekümmert zu haben?“
„Nun, ich habe mich schon manchmal mit Ihnen befasst, soweit es mein Leben betraf‘, stammelte Rainer Kohlhaas.
„Könnten Sie das genauer erläutern?“ hakte der Richter nach.
„Also, ich habe ab und zu Nachrichten gesehen und Zeitung gelesen“, versuchte Rainer Kohlhaas zu erklären.
„Und Sie, Frau Martina Günther. Haben Sie sich wirklich jemals ernsthaft um mich gekümmert?“ sprach der Schattenrichter mit drohender Stimme.
„Vielleicht nicht genug. Aber manchmal schon. Ich kam auch oft nicht dazu. Mein Beruf hat mich meist so in Anspruch genommen, dass ich keine Zeit mehr hatte, viel an Sie zu denken.“, gab Franks Schwester kleinlaut zurück.
„Und bei Ihnen war es ähnlich, Herr Kohlhaas?“ polterte der Richter durch den Saal.
„Es tut mir leid, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich auch immer nur gearbeitet und mich in erster Linie um mich selbst gekümmert. Ich musste ja zusehen, dass ich überlebe und Geld verdiene. Und da fehlte mir oft einfach die Zeit“, hörte man Rainer Kohlhaas mit zitternder Stimme sagen.
„Und Sie haben geglaubt, dass Sie damit durchkommen. Dass Sie mich all die Jahre einfach mehr oder weniger ignorieren könnten und nicht ernst zu nehmen bräuchten!“ knurrte ihn das Geistwesen an.
„Vergeben Sie mir. Die Zeit hätte ich mir sicherlich nehmen sollen. Ich habe ja auch Ihren Werdegang verfolgt, Herr Richter. Nachrichten habe ich viel gese- hen...eigentlich...“, versuchte sich Rainer Kohlhaas zu rechtfertigen.
„Ja, bei mir war es auch so!“ stimmte Martina zu.
„Und Sie denken, es hat ausgereicht, andere über mich reden zu lassen? Sie glauben wirklich, es sei genug gewesen, wenn andere sich um mich kümmerten und Sie selbst nur das nachplapperten, was diese über mich erzählten? Warum haben Sie sich nie selbst ein Bild gemacht?“ fragte der Schatten in vorwurfsvollem und erbostem Ton.
„Vergeben Sie uns Herr Richter, aber wir hielten einfach viele andere Dinge in unserem Leben für wichtiger, als uns um Sie zu kümmern“, lamentierten die beiden Angeklagten voller Sorge.
Plötzlich fand sich Frank in seinem Traum an einem anderen Ort wieder. Zuerst fiel ihm der schreckliche Gestank auf, der ihm vom Boden aus in seine Nasenlöcher kroch. Er befand sich auf einem Feld, das sich endlos weit bis in den letzten Winkel des formlosen Horizonts auszudehnen schien und nur einige Berge waren noch irgendwo in der weiten Ferne zu erkennen. Jetzt sah er, was dieses Feld bedeckte. Es waren Leichen. Hunderte, Tausende, Millionen.
Sie stanken furchtbar und verrotteten vor sich hin. Ihre gräuliche, tote Haut war eingefallen und aus ihren Mündern und vertrockneten Augenhöhlen krochen Maden und anderes Gewürm.
Es waren so unfassbar viele: Männer, Frauen, Kinder — manche erst frisch gestorben, andere schon stark verwest und fast zu Skeletten zerfallen. Frank musste aufpassen, dass er beim Gehen nicht auf dem Teppich von
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