Beutewelt 03 - Organisierte Wut
der Stadt in Flugblättern dazu auf, sich am 28.09.2034 um 15.00 Uhr auf dem Marktplatz von Baranovichi einzufinden. Selbst Wilden hatte bei einer derartigen Provokation der Behörden kein gutes Gefühl.
Die Medien griffen die Sache jedenfalls auf und verkündeten die Nachricht vom geplanten Protestmarsch der Freiheitsbewegung bis in den letzten Winkel des Verwaltungssektors „Europa-Ost“. Artur rechnete mit einem gewaltigen Polizeiaufgebot und seine Anhänger sollten sich bewaffnen und auf blutige Straßenkämpfe, ja bürgerkriegsähnliche Zustände, vorbereiten. Er verkündete sogar, dass die Zeit reif für den Sturm auf Minsk sei. Letztendlich kam aber alles anders als erwartet.
Schon um 13.00 Uhr hatten sich fast 5.000 Demonstranten in der Innenstadt von Baranovichi versammelt, davon trugen einige Hundert Mann Pistolen und sogar Sturmgewehre. Ein Meer von Drachenkopffahnen hatte sich im Zentrum der Stadt gebildet und im Minutentakt stießen neue Besucher aus den Nebenstraßen hinzu.
Frank, Alfred, Wilden und die anderen aus Ivas hatten sich an diesem Tag bereits früher auf den Weg gemacht, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. In der Stadt hatten sie bisher kaum Polizisten zu Gesicht bekommen.
„Irgendetwas stimmt hier nicht“, sagte Wilden und blickte auf die zerbröckelnden, alten Gebäude um ihn herum.
„Hauptsache, es gibt nicht schon wieder Krawalle“, erwiderte Kohlhaas und verließ seine Freunde aus Ivas, um Artur zu suchen. Bäumer folgte ihm. Nach einigen Minuten hatten sie sich durch die Masse der vielfach vermummten Menschen gekämpft und kamen zum Anführer der Rus.
„Ah, Frank und Alfred! Ihr lauft ganz vorne mit“, bemerkte Tschistokjow. „Gut seht ihr aus!“
Artur musterte die beiden. Sie hatten ihre Sturmgewehre geschultert und waren ganz nach Kleiderordnung angezogen, graues Hemd und schwarze Hose, so wie es sich für die Anhänger der Freiheitsbewegung gehörte.
„Das ist Olaf, er ist Chef der Gruppe von Baranovichi“, erklärte der Rebellenführer und zeigte auf den Mann neben sich.
„Hello, I’m Frank!“
„Olaf!”, brummte der Russe nur und schaute weiter starr geradeaus.
„Warum ist so wenig Polizei hier?“, fragte Bäumer und zuckte verwundert mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, vielleicht sie haben Angst“, gab Tschistokjow grinsend zurück und strich sich durch seine verschwitzten, blonden Haare. Dann rief er einigen jungen Männern Anweisungen zu und verschwand wieder in der Menge.
Um 15.00 Uhr setzte sich der Demonstrationszug mit lautem Gebrüll in Bewegung. Große Transparente mit der Aufschrift „Artur Tschistokjow – Jetzt!“ oder „Arbeit und Freiheit für alle Russen!“ wurden von den Männern in der ersten Reihe getragen.
Thorsten Wilden und der Rest aus Ivas blieben relativ weit hinten. Sven und einige andere junge Männer aus Ivas flankierten den Demonstrationszug mit gezückten Waffen.
Frank, der ganz vorne fast direkt neben Artur Tschistokjow herlief, versuchte einzuschätzen, wie viele Leute heute gekommen waren. Vielleicht 6000 Menschen, vielleicht aber auch 8000 oder mehr. Es war ein langer Menschenwurm, welcher hier durch die Straßen von Baranovichi kroch.
Neben Kohlhaas schrieen die anderen ihre Parolen aus voller Kehle heraus, Artur hingegen schwieg, denn er musste seine Stimme für die später folgende Rede schonen. Auch Frank und Bäumer, die sich immer wieder leicht verunsichert ansahen, verhielten sich ruhig und suchten die Umgebung nach Gefahren ab.
„Kein Bulle zu sehen. Das ist doch nicht normal. Halb Weißrussland weiß, dass wir hier sind“, grübelte Kohlhaas und reckte seinen Kopf nach oben.
Sie marschierten etwa drei Kilometer durch die Innenstadt, vorbei an jubelnden Bürgern und heruntergekommenen Häusern. Jedoch nicht jeder Einwohner der Stadt war ihnen heute gut gesonnen. Manche brüllten auch „Mörder! Mörder!“ aus den Fenstern und meinten damit Tschistokjow. An einer Straßenecke warfen einige Dutzend tadschikische Jugendliche Steine auf die Demonstranten und flüchteten, als die Masse näher kam.
Offenbar hatte die Medienhetze gegen die Freiheitsbewegung der Rus doch bei einem Teil der Bevölkerung gefruchtet.
Die letzten Demonstrationen, welche ausschließlich in ländlich geprägten Regionen und verschlafenen Kleinstädten durchgeführt worden waren, waren sehr ruhig verlaufen. Hier in Baranovichi war die Atmosphäre unangenehmer. In den Großstädten des Landes, vor allem
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