Bevor Alles Verschwindet
»Schöne Scheiße« gar nicht so schlecht. David nickt. Seine Lippen sind aufgesprungen, die Stirn ist verschorft und den Arm darf Jules auf keinen Fall noch einmal ansehen, den Arm hält er nicht aus. Er sollte David etwas zu Trinken und zu Essen bringen, aber er fürchtet, sich nicht mehr zurückzutrauen, wenn er das Zimmer einmal verlassen hat. Jules fragt sich, was David von seiner Anwesenheit hat, von Jules Hilflosigkeit und Glotzerei.
»Schöne Scheiße«, sagt David und er klingt wie immer, sein »Schöne Scheiße« hört sich an wie sein »Letzte Runde«, sein »Mach mal halblang«, wie Davids »Na dann«, »Bis dann«. Jules nickt heftig. David und Jules sitzen in diesem völlig ortlosen Raum, wo Tibet fehlt wie Ägypten und Peru und die höchsten Berge und alle Meere und jeder Traum.
»Das ist nicht alles«, sagt Jules irgendwann. Er sagt es ohne bestimmten Grund. Der Satz ist einfach da.
»Verrate mich nicht«, sagt David, und Jules nickt und weiß, er sollte gehen, und bevor er geht, drückt er schnell und verlegen und fest Davids gesunde Hand. Am Tag der Nähe soll auch er etwas davon abbekommen. Etwas, das gut ist.
»Wir sehen uns«, sagt Jules an der Tür. Er will David das Versprechen abnehmen, dass er Jules anderswo begegnen wird und in einem anderen Zustand, dass David sich retten wird. Aber er findet seinen Blick nicht mehr.
»Wann warst du das letzte Mal da unten?«, fragt Wacho.
»Wo?«
»Bei der Traufe«, sagt er so leise, als wäre es ein verbotenes Wort, und vielleicht ist es das, die Traufe ist in der letzten Zeit zu ihrem Feind geworden, die Traufe nimmt sich mittlerweile viel zu wichtig.
»Lange nicht mehr«, sagt Eleni, und Wacho nickt, wuchtet sich aus dem Campingstuhl, stößt dabei den Oberverantwortlichen um, der wacht nicht auf. »Schade«, sagt Wacho und wirft einen bewundernden Blick auf den Mann, der tatsächlich in seiner Kippstellung weiterschläft. »Kein Wunder, dass der es zu was gebracht hat. Ich zum Beispiel könnte das nicht.« Wacho nimmt Elenis Hand, die zieht sie nicht weg, heute ist der Tag der Berührungen, es ist Eleni recht, so kann sie sich vergewissern, noch greifbar zu sein.
Eleni lässt sich von Wacho hinunter zur Traufe mitnehmen. Der Fluss ist mittlerweile abgesperrt. Wacho hebt das Band an und lässt Eleni den Vortritt. Sie kann sich nicht daran erinnern, Wacho jemals so zuvorkommend erlebt zu haben. Eleni hat ohnehin nur sehr wenige Erinnerungen an Wacho, vieles, was mit Wacho zu tun hat, klammert man besser aus.
»Ups«, ruft Wacho, »jetzt wäre ich doch fast ins Wasser gefallen.« Eleni sieht zu, wie er wackelt und balanciert, wie er sich bemüht, auf einem Bein zu stehen, und das am Hang und warum auch immer. Weil er jetzt beginnt, sich auszuzie
hen, darum. Eleni schaut nicht weg. Wacho steht in seiner Unterhose vor ihr, die Hose ist blütenweiß und feingerippt, diese Hose ist keine Überraschung. Wacho hat mächtige Arme und einen Bauchansatz.
»Und was wird das jetzt?«, fragt sie. Wacho strahlt.
»Ich bade.« Eleni nickt, dabei ist sie nicht einverstanden. Sie wird unmöglich dazu im Stande sein, Wacho aus dem Fluss zu ziehen, wenn er zu ertrinken droht. Trotzdem steht sie da, während er bis zum Wasser hinunterkriecht und die Hand prüfend hineinhält.
»Gar nicht so kalt«, ruft er zufrieden. »Aber auch nicht so warm.« Er zögert nicht lange, er steht kerzengerade. In einem formvollendeten Bogen springt Wacho ins Wasser, und Eleni überlegt, wie tief es wohl ist und ob Wacho sich den Kopf aufgeschlagen hat, bei seinem kunstvollen Sprung. Eleni nähert sich der Böschung, angestrengt sieht sie hinab, der Mond badet schon, Wacho ist in die Mitte des Mondes gesprungen, das gibt es nicht alle Tage. Vielleicht ist Wacho das Opfer, das sie der Traufe bringen müssen, um sie endlich zu besänftigen. Ein Bürgermeister als Opfer an den wiederentdeckten Flussgott scheint Eleni nur konsequent.
Sie steckt die Hand in die Tasche, das ist gar nicht so einfach, weil sie ja kniet. Sie drückt das Formular, aus dem Wasser taucht Wacho auf, schnaufend, aber ohne Platzwunde, er wirkt zufrieden. Eleni richtet sich auf, sie nimmt Anlauf und dann springt sie in voller Montur in den Fluss.
»Das wurde auch Zeit«, ruft Wacho, als sie wieder auftaucht.
»Das hat nichts mit dir zu tun«, sagt sie. »Rein gar nichts hat das mit dir zu tun.«
»Das macht nichts«, sagt Wacho. »Hauptsache, du bist hier.«
»Ich bin nicht für dich hier«, sagt
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