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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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selbst gedacht, und wenn sie tot und Ernst lebendig wäre, dann würde Ernst wohl vergessen werden.
    Eines Morgens vor sechs Jahren, genau vor sechs Jahren, auf den Tag, lag Ernst still neben ihr. Greta hat kurz geglaubt, es wäre ein Spiel, diese seltsame Art von Humor, von der er annahm, sie sei seine größte Stärke. Ernst hatte morgens schon häufiger leblos neben Greta gelegen, nicht auf Rufen, nicht auf Schütteln, erst auf Kitzeln reagiert, und einmal
schlug er erst seine Augen auf, als sie weinte. Dieses eine Mal vor sechs Jahren hat sie ihm nur die Hand auf die Wange legen müssen, um zu verstehen, dass es diesmal kein Witz war.
    Greta ist neben Ernst liegen geblieben, bis kurz vor zehn, bis sie Hunger bekam. Sie hat ihr Gesicht in seine Wange gedrückt, sie schlief immer links und das tut sie auch jetzt noch, weil er nachts manchmal neben ihr auftaucht, und sie hat »Bis bald, mein Lieber« gesagt. Das war ihr Abschied, sie würden sich wiedersehen, ganz allein und ohne den Ort, ohne die höhere Instanz, deshalb haben ein paar Worte gereicht, weder sie noch er mögen Übertreibungen.
    Manchmal kommt Greta vom Thema ab, aber das erlaubt sie sich wie andere in ihrem Alter das Schnäpschen nach dem Essen. Nun wühlt sie sich durch ihr kleines Haus und sucht nach Dingen, die dem Jungen helfen, aber nicht Ernst gehören. Viel ist da nicht, sie findet nur ihren eigenen alten Mantel, immerhin besser als der löchrige Pullover, den der Junge jetzt trägt. Mit Gretas Mantel wird er noch wunderlicher wirken, aber immerhin hat er so eine Chance, die ein, zwei restlichen Monate des Winters zu überstehen. Greta sieht zum Bett, zum Tisch, zu der Küchenbank, mehr gibt es nicht in ihrer Nebenkapelle und hier kann er auf keinen Fall unterkommen.
    Greta nimmt den alten Mantel, tritt aus der Tür, er soll ihn sich überziehen, so geht das nicht. Auf der Bank liegen drei geschälte Kartoffeln, von dem Fremden keine Spur. Greta seufzt, breitet den Mantel auf der Sitzfläche aus, lässt sich darauf nieder und betrachtet die Kartoffeln. Sie sind fein säuberlich in die Form von Pfeifenköpfen geschnitzt.
     
    Jules grinst in sein Kissen, als Jula versucht, sich bei ihm einzuschleimen. »Das mit der Liste war total dämlich«, sagt Jula. »Ich kann verstehen, dass dir nichts eingefallen ist.«
    »Warum tust du dann so bescheuert?«, fragt Jules. Er hat
nicht aufgesehen, seit sie ins Zimmer gekommen ist. Das ist die Strafe, er hält das erstaunlich lange durch, und Jula beginnt, ihn hinter den Ohren zu kraulen, seinen Kopf, sie wühlt in seinem Haar. Das ist die Entschuldigung und Jules lässt sich Zeit, bis er sie annimmt.
    »Lass uns nicht so sein, in Ordnung?«
    »In Ordnung«, sagt Jules und: »Alles wie immer?«
    »Alles wie immer.«
     
    Wacho kann David nicht verzeihen, dass er nicht bei der Versammlung gewesen ist. Er hat es ihm versprochen und ist trotzdem nicht aufgetaucht.
    »Wie sollen wir zusammenhalten, wenn du weg bist?«, fragt Wacho und wartet vergeblich auf eine Antwort. »Dein Geburtstag, wir hätten deinen Geburtstagsabend nach der Versammlung zusammen verbringen können, ich hätte dich auf einen Punsch eingeladen, aber du warst weg und bist die ganze Nacht nicht zurückgekommen. Du hast alles verpasst.«
    »Was war denn?«, fragt David und dreht seine Teetasse in der Hand.
    »Nichts«, sagt Wacho, »nichts, was dich interessieren könnte.«
    »Aha«, sagt David. »Aber irgendwas ist doch. Warum zum Beispiel fahren die Nachbarn weg?« Wacho tritt ans Fenster. Er geht unsicher, schiebt die Gardine beiseite. Die Nachbarn sechs Häuser weiter packen ihr Auto, schnallen ein altes Küchenbüffet aufs Dach. Sie sind die einzigen Menschen auf dem Hauptplatz und sie blicken sich immer wieder hektisch um. Sie wirken, als befürchteten sie, jemand könne sie aufhalten. Aber wer gehen will, soll gehen. Wer an Flucht denkt, der gehört ohnehin nicht mehr dazu. Der soll doch in den neuen Ort fahren, den Klon ihrer alten Heimat.
    »Keine Ahnung«, sagt Wacho und dreht sich wieder zu David um: »Vielleicht machen sie Urlaub.«
    »Zu dieser Jahreszeit und mit dem Klavier und dem Rasenmäher?«, fragt David und tritt neben seinen Vater. David riecht nach Rauch, nach verbranntem Holz und nach etwas Süßlichem. Wacho kennt den Geruch, auch wenn ihm im Moment nicht einfällt woher.
    »Vielleicht«, sagt er. »Ist doch egal.«
    »Sag mir, was los ist«, sagt David. Wacho entdeckt einen schwarzen Strich an Davids Schläfe, er

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