Bevor Alles Verschwindet
Nacht. Alle seine Anstrengungen richten sich auf seine Frau. Über den Hauptplatz rollt ein Taxi, Wacho tritt nah an die Scheibe, das Glas beschlägt. Hektisch wischt er übers Fenster, er kann nicht zulassen, ihre Rückkehr zu verpassen. Aber aus dem Taxi steigt nur Mona, schon wieder zurück, mit einem Verband um den Kopf und ohne Tasche, die Brille schief auf der Nase. Mona blickt in Wachos Richtung, aber wahrscheinlich bemerkt sie ihn nicht. Trotzdem nickt er ihr zu, er hat keine Kraft übrig, sie vernünftig und gebührend in Empfang zu nehmen, sie zu ihrem Haus zu führen und ihr für den nächsten Tag eine Fahrt zum Optiker anzubie
ten. Er hat nicht auf Mona gewartet, für sie kann er nichts tun. Er muss hier ausharren.
Mona geht langsam übers Kopfsteinpflaster, die kurze Treppe zu ihrer Haustür hinauf, sie tastet sich vorwärts, mit zerstörter Brille fast blind, und über der Tür funktioniert das Licht nicht. Mona verschwindet unbeleuchtet im Haus und Wacho zieht sorgfältig die Gardinen zu. Er kann auch am Tisch sitzen und warten, es wird Anna nicht davon abhalten, zu ihm zurückzukehren.
Greta verbringt einige Momente mit den geschnitzten Kartoffeln, ein paar unverzeihlichen Gedanken an den Jungen, der sich irgendwo verkrochen haben muss, mit der Abbitte an Ernst, den das nicht gestört hätte, Gretas plötzliche Sorge um einen Lebendigen. An den Untergang denkt sie wenig und viel an anderes, sie ist in den letzten sechs Jahren eine Meisterin der Verdrängung geworden. Als es dunkel ist, klopft es endlich. David steht vor der Tür, er fragt, ob Greta ihm von der Versammlung erzählen kann.
David wirkt seltsam schwankend zwischen Glück und Angst. Greta ist der Meinung, dass er Bescheid wissen muss, und öffnet das erste Mal seit langem die Tür für einen Besucher. David tritt sofort ein, neugierig schaut er sich um.
»Es hat sich gar nichts verändert«, sagt er. Alles hat sich verändert, denkt Greta. Alles, was zählt.
Greta erinnert sich noch gut an Davids letzten Besuch. Da war Ernst noch nicht tot, auch irgendwann im Winter war das. Es gab Honigkuchen und Kakao mit Muskat und leicht angebrannte Zimtkringel, die David gebacken und zwischenzeitlich im Backofen vergessen hatte. Die Zwillinge waren dabei und Robert mit Marie auf dem Arm und Clara, die gleich wieder losmusste. Oder nein, es war ein anderes Mal, David war später noch mal allein hier. Er hat sie besucht, an dem Tag, bevor Ernst starb. David hat ihm geholfen, das Sicher
heitsgeländer zu reparieren, das auf Höhe des Schwalbennests gebrochen war. Ernst hat darauf bestanden, mit David nach oben zu steigen, trotz der Eiseskälte, trotz Rutschgefahr. Greta hat währenddessen den Schnaps aus dem alten Pflanztopf neben der Tür geholt, und als sie ihn dort herausnahm, hat sie so etwas wie eine Vorahnung gehabt. Sie hat sich vorgestellt, wie Ernst oder sie eines Tages einen Schluck auf des anderen Wohl nehmen würde ohne dessen Anwesenheit.
Frierend, aber unbeschadet, sind sie vom Turm zurückgekehrt. David mit Spinnweben im Haar, ihr Ernst mit feinen Schweißperlen auf der Glatze. »Der Junge kann klettern«, hat Ernst gesagt und in drei Gläser Schnaps eingeschenkt. Als sie dann anstießen, auf die gelungene Instandsetzung, ist Greta wieder eingefallen, dass David nicht trinkt. Sie konnte nichts mehr tun oder sagen, David hatte den Schnaps bereits hinuntergekippt. Nach diesem großen Schluck atmete er hörbar aus. Er sah zornig aus für die nächsten zwei Atemzüge, er hatte gerade gegen sich selbst verloren und, was noch schlimmer war, gegen seinen Vater. Als sie ihn daraufhin fragend ansah, hat er gegrinst, er hat gegrinst und etwas von einer Ausnahme gesagt.
»Greta?«, fragt David und: »Alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung«, sagt Greta. Auf dem Stuhl liegen noch Ernsts Hemd und seine Hose, die Hosenträger und die beigen Strümpfe obenauf, vor dem Stuhl stehen noch seine Schuhe, die sie, während er sich im Bad die Zähne putzte, immer ordentlich zu den Stuhlbeinen hin ausrichtete. Da liegt noch seine Brille auf dem Nachttisch, auf einem Buch, in dem noch immer ein Lesezeichen steckt. Von Eselsohren hält Greta viel, Ernst aber hat gar nichts davon gehalten. Was Greta freut: Es ist ein Buch, das seinen Ausgang an den Anfang stellt, so ist ihr Ernst immerhin in diesem Zusammenhang ohne offene Fragen geblieben.
David betrachtet den Raum wie eine Grabkammer, wie sonst.
»Setz dich«, sagt Greta. Sie zeigt auf den Esstisch,
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