Bevor Alles Verschwindet
Morgen schon richtig verabschiedet, in aller Frühe, das musste niemand mitbekommen. Greta hat sich an sein Grab gestellt, hat ihm erneut erklärt, was heute passieren wird und dass ihr widerstandsloser Auszug aus der gemeinsamen Nebenkapelle keineswegs bedeutet, dass sie ihn aufgibt. »Es ist nur vorübergehend«, hat sie gesagt. »Wenn ich mich groß aufrege, wird man mich beobachten, und dann funktioniert nicht mehr, was unbedingt funktionieren muss.« Greta durchschaut selbst, dass diese Gespräche vor allem ihr selbst helfen. Ob Ernst sie hört, weiß sie nicht. Vielleicht ist der Tod echt und unendlich, aber für den Fall, dass dem nicht so ist, hat Greta sich abgesichert. Nun klopft sie ein letztes Mal freundschaftlich auf seinen Stein, setzt ein Lächeln auf und konzentriert sich auf das, was nun kommt.
»Da bist du ja!«, ruft Greta fröhlich, als David ihr vom Friedhofstor zuwinkt. Das Tor werden sie abreißen, sobald Greta dem Friedhof den Rücken gekehrt hat, sonst können sie hier nicht vernünftig arbeiten.
»Tut mir leid«, sagt David, als er bei ihr ist.
»Was?«, fragt Greta argwöhnisch. David soll auf keinen Fall auch noch vor Mitleid triefen.
»Dass ich jetzt erst komme. Wacho –«
»Nenn ihn Martin oder Papa«, sagt Greta streng.
»Nein«, sagt David. Greta wundert sich nicht, dass David widerspricht. Die Zeiten ändern sich, Menschen machen merkwürdige Wandlungen durch, und warum sollte gerade an David all das spurlos vorübergehen?
»In Ordnung«, sagt Greta, »dann können wir jetzt gehen.«
David greift sich ihren Koffer, und Greta fällt erneut der gierige Blick des Gelbhelms auf. Sie braucht das Motorrad, das gibt sie nicht her.
»Na dann«, sagt David und grinst Greta schief an. »Schön, dass du jetzt erst mal bei uns wohnst.« Greta findet das auch schön, sie mag David und auch Milo, wie er da immer auf der Treppe sitzt, und im Grunde genommen mag sie auch Wacho. Sie kann David nicht helfen, das hat sie mittlerweile verstanden. Da kann sie nichts machen und damit muss sie sich abfinden, und das Gepolter und Gefluche aus nächster Nähe auszuhalten, wird ihr nicht leichtfallen. Greta versichert sich selbst, dass sie nicht mehr dazugehört. Das ist nicht länger ihre Welt, die sie hier auseinandernehmen.
Sie lassen den Friedhof hinter sich, überhören gemeinsam die Geräusche, die ein Gebäude macht, wenn man ihm die Wände unter dem Dach wegreißt. Sie gehen die Straße hinunter bis zum fast abgeräumten Hauptplatz und Greta zeigt auf irgendein Unkraut, das sich durch die Überbleibsel des Kopfsteinpflasters gebohrt hat.
»Giersch.«
»Jeremias fährt heute«, sagt David.
»Oh«, sagt Greta, mehr nicht. Als sie an der weißen Treppe ankommen, zeigt sie auf den zerstörten Löwen, dem fehlt die Wachsamkeit. David öffnet die Tür, und Greta streicht Milo über den Kopf: »Du, immer du.«
Dann folgt sie David ins Haus. Er hat Milo nicht beachtet, die Diele ist kalt und das Sonnengelb blass, aber das hat nichts zu sagen, auch in diesem Jahr wird es Frühling werden.
»Herzlich willkommen«, sagt Wacho, breitet die Arme weit aus und Greta fühlt sich sehr wohl, eingehüllt in eine weiche Weinwolke. »Geh in dein Zimmer«, sagt Wacho zu David, und der verschwindet stumm im Dunkel des Hauses.
»Guten Morgen, ihr beiden«, sagt Eleni, als sie in die Küche kommt. »Jules, wo ist deine Schwester?«
»Keine Ahnung, im Bett?«
»Es ist fast elf«, sagt Eleni.
»Ja«, sagt Jeremias. »Fast elf.«
»Ist irgendwas«, fragt Eleni. »Habe ich was verpasst?«
»Möchtest du einen Toast?«, fragt Jules. Eleni nickt, draußen poltert es. Weil fast nichts mehr da ist, gelangen die Geräusche ungedämpft überallhin, und manchmal wissen sie nicht mehr, wo sie sich gerade befinden, auf jeden Fall sind sie immer viel zu nah dran.
»Sie reißen die Nebenkapelle ab«, sagt Eleni. »Dann kommen sie also wirklich bald zu uns.«
»Das haben wir im letzten Monat auch schon gedacht«, sagt Jeremias. »Ich frage mich, was das mit den Markierungen und dem Plan überhaupt soll, wenn sie sich ohnehin nicht dran halten.«
»Wir haben schon eine Mahnung bekommen«, sagt Eleni. »Wir sollten längst weg sein.«
»Sollten wir«, sagt Jeremias.
»Dein Toast«, sagt Jules und wirft seiner Mutter das warme Brot zu.
»Stell mal auf vier«, sagt Eleni. »Man merkt ja gar nicht, dass der getoastet ist.«
»Jules kommt mit«, sagt Jeremias.
»Wohin?«
»In das neue Haus.«
»Wirklich«, fragt
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