Bevor Alles Verschwindet
»Wenn du mit ihm sprichst, muss ich dich wieder einsperren.« David nickt. »Gut«, sagt Wacho fröhlich. »Gut, dass du verstehst. Jetzt geh Greta holen.« David nickt, David geht. Er tut, was man ihm sagt.
Clara weckt Marie und zieht die Vorhänge auf.
»Kindergarten, Marie. Wenn du nicht kommst, ist die Kindergärtnerin allein. Außerdem scheint die Sonne und der Kakao ist fertig.« Marie streckt sich gähnend, der Totenkopf fällt auf den Boden.
»Autsch«, sagt Marie.
»Schädelfraktur«, sagt Clara. Marie lacht und auch Clara muss lächeln. »Du Troll«, sagt Clara und nimmt ihre Tochter in den Arm. Marie ist morgens ganz warm und weich.
»Wie lange sind wir noch hier?«, murmelt Marie in Claras Pullover hinein.
»Bis zum Jahrhundertfest.«
»Dann sind wir die Letzten.«
» Unter den Letzten. Wacho bleibt bestimmt noch mit David.«
»Und Milo«, sagt Marie.
»Der sowieso. Und die Zwillinge und Eleni.«
»Papa?«, fragt Marie.
»Klaro«, sagt Clara. »Und jetzt wird aufgestanden.« Marie kriecht aus dem Bett, sammelt ihre Anziehsachen zusammen, sie kann alles allein. Nur noch ganz kurz, dann ist sie frei. Dann kann sie forschen und herausfinden, was wirklich passiert. Marie wird ihre Mutter beobachten, sie wird herausfinden, ob ihr Fuchs die Gelbhelme wirklich beißt.
Von Ernsts Grab aus beobachtet Greta aufgeregt, wie der Bagger sich der Kapelle nähert. Als die Schaufel die Wand fast berührt, krallt Greta ihre Hand um den Stein, auf dem auch ihr Name schon seit langem vermerkt ist. Der Bagger bremst ab, nur einen Schritt von der Mauer entfernt. Die Nebenkapelle steht nicht unter Denkmalschutz und daran ist Greta mit schuld. Sie hat die alten Fenster entfernen lassen, weil es zog, irgendwann zog es bis in ihre Knochen hinein. In den Fenstern prangt jetzt Doppel-Plastik, und die bunten Fliesen hat Greta vor Jahren mit grauer Auslegware beklebt. Auf dem Dach liegt Wellblech, Greta ist pragmatisch und rational und sie vergießt auch jetzt keine Träne. Sie zwingt sich, den Stein loszulassen.
»Wo werden Sie hingehen?«, fragt ein Gelbhelm, der plötzlich neben ihr steht. Er fragt sie das nicht zum ersten Mal.
»Ich ziehe ins Rathaus«, sagt Greta. »Das wird hoffentlich noch eine Weile stehen.« Der Gelbhelm nickt und betrachtet nachdenklich Gretas Koffer.
»Ein Bett brauchen Sie nicht?«
»Nein, im Rathaus ist noch eins übrig.«
»Ihren Tisch, die Stühle, den Herd?« Greta schüttelt den Kopf. »Wie bekommen Sie den Koffer hier weg?«
»David holt mich, das ist der Sohn des Bürgermeisters.«
»Ich weiß«, sagt der Gelbhelm. »Ich bin ja auch schon eine Zeitlang hier.«
»Tatsächlich«, sagt Greta. Bisher ist er ihr nicht aufgefallen, das könnte an dem gelben Helm liegen oder daran, dass Greta das meiste um sich herum für nicht mehr beachtenswert hält.
»Seien Sie nicht traurig«, sagt der Gelbhelm und nimmt Gretas Hand. Greta macht einen Schritt zurück. Woher kommt eigentlich der Glaube daran, alte Menschen und kleine Kinder jederzeit anfassen zu dürfen? Und warum streicht auch sie Milo ständig übers Haar? Weil er da sitzt, und zwar allein, weil sie immer noch nicht ganz glauben kann, dass er da ist?
»Entschuldigung«, sagt der Gelbhelm. »Das Ganze tut mir sehr leid.«
»Das muss es nicht«, sagt Greta. »Ich wäre ohnehin in der nächsten Zeit umgezogen.« Der Gelbhelm blickt auf die Gräber, die runzligen Wände der Nebenkapelle, den schiefen Turm, das alte rote Motorrad, auf dem er sehr gern einmal eine Runde drehen würde.
»Das verstehe ich. Das hier ist wohl nicht der richtige Ort.«
»O doch«, sagt Greta, »das ist er.« Der Gelbhelm versteht nicht, will aber nicht weiter nachfragen. Er wendet sich seinen Kollegen zu, die stehen wartend und sind froh, dass er die Kontaktaufnahme mit der Einheimischen übernommen hat. Er kann das am besten, er kommt nicht aus der Gegend.
»Dann können wir wohl«, sagt der Gelbhelm zu den anderen.
»Legen Sie los«, sagt Greta aufmunternd. Sie fürchtet, dass die Männer sich nicht trauen, mit der Arbeit zu beginnen, solange sie hier ist. »Ich bin gleich weg.« Die Gelbhelme lächeln milde, einer wirft einen verstohlenen Blick zum Bagger hin
über. Pietätvoll versteckt der sich hinter der Hecke des Friedhofs.
»Aber die Gräber machen Sie noch nicht«, sagt Greta.
»Nein«, sagt ein Gelbhelm. »Die macht eine spezialisierte Firma. Da müssen besondere Vorkehrungen getroffen werden.«
Von Ernst hat Greta sich heute
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