Bevor der Abend kommt
glaube, dass sie das ganz toll finden würde«, sagte Cindy, die ihrer Schwester in die Küche gefolgt war.
»Gut. Dann mache ich das.«
»Leigh?«
»Hmm?«
Cindy atmete tief ein und zögerte. »Danke«, sagte sie schließlich.
26
»Wie hast du sie dazu gebracht zu gehen?«, fragte Neil.
»Ich habe ›bitte‹ gesagt«, antwortete Cindy. »Etwas, was ich in letzter Zeit viel zu selten gesagt habe.« Es war beinahe Mitternacht, sie und Neil saßen nackt in ihrem Bett, nachdem sie sich gerade zum dritten Mal seit seiner Ankunft vor zwei Stunden geliebt hatten. Elvis lag neben ihnen auf dem Boden, als spürte er ihr Bedürfnis nach Privatsphäre. Vielleicht war ihm auch einfach die dauernde Bewegung zu viel geworden, weil er seine Position ständig wechseln musste, um ihren fieberhaften Turnübungen Platz zu machen. »Ich glaube, sie waren in Wahrheit ganz froh über die Pause. Mein Schwager war ziemlich geduldig, aber ich bin sicher, dass er erleichtert ist, seine Frau zurückzuhaben, selbst wenn es nur für ein oder zwei Tage ist. Und meine Mutter war hier seit …« Cindy hielt inne, weil sie zögerte, Julias Namen laut auszusprechen. Sie wollte den Schmerz über ihre vermisste Tochter nicht in ihr Bett holen, wo sie zusammen mit Neil zum ersten Mal Trost und Vergessen fand, seit Julia verschwunden war.
Doch es war schon zu spät. Die dolchartigen Stiche, die sie anfangs in Brust und Unterleib gespürt hatte, waren einem dumpfen Dauerschmerz gewichen, der jede Faser ihres Körpers erfasste – wie eine chronische Krankheit im Gegensatz zu einer überraschenden Attacke – und sich bereits zwischen sie und die Laken geschmuggelt hatte.
»Wir könnten noch ein bisschen Fernsehen gucken, was meinst du?« Cindy schaltete den Fernseher ein und begann, durch die Programme zu zappen.
»Was ist das?«, fragte Neil, als Cindys Finger über der Fernbedienung erstarrten. Auf dem Bildschirm erschien das verzerrte Abbild von Edvard Munchs Meisterwerk Der Schrei , wieder geboren als grässliche Maske, die das Gesicht eines gnadenlosen Killers verbarg, der eine Gruppe von Teenagern verfolgte.
» Scream «, sagte Cindy zittrig und schüttelte den Kopf ob der Ironie, dass ein atemberaubendes Werk der Kunst seine größte Berühmtheit durch eine Horrorfilmserie für Teenies erlangt hatte. Und bei dem Gedanken, dass sie sich die gesamte Serie tatsächlich angeschaut hatte, musste sie erneut den Kopf schütteln.
Nein, ich sehe mir nicht Scream 3 mit dir an , hatte Julia protestiert, als der Film herauskam. Er soll so brutal sein. Ich kann nicht glauben, dass du ihn dir anguckst. Wie kannst du dir solchen Mist reinziehen ?
Vor Julias Verschwinden hatte Cindy immer eine bequeme Antwort darauf gehabt, die sie auch Neil bei ihrer ersten Verabredung entgegnet hatte. Sie mochte das fiktionale Grauen, eben weil es fiktional war. Sie konnte den Kitzel der Gefahr genießen, ohne ihre reale Bedrohung zu spüren. Denn die Gefahr war komplett illusionär. Sie war vollkommen sicher.
Nur dass niemand je sicher war, wie sie jetzt begriff. Nicht die vermeintliche Bedrohung durch Gefahr, sondern das Gefühl von Sicherheit war die wahre Illusion.
Die Ungeheuer waren sehr real.
Cindy zappte weiter. »Sag Bescheid, wenn du irgendwas Interessantes siehst.«
Sanft nahm Neil ihr die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher ab. »Es ist spät. Warum schlafen wir nicht einfach?«
»Hast du deine Frau je betrogen?«, fragte Cindy unvermittelt und beobachtete Neils Reaktion aufmerksam.
»Nein«, sagte er. »Das ist nicht mein Stil.«
»Tom hat mich ständig betrogen.«
»Tom ist ein Arschloch.«
»Ja, das ist er, nicht wahr?« Cindy lächelte, und es war nicht der starre Reflex, mit dem sie sonst jede Erwähnung ihres Ex-Mannes quittierte, sondern ein echtes Lächeln.
Die Scheidung ist jetzt sieben Jahre her , hörte sie Julia sagen. Komm drüber weg .
Erstaunlich, dachte Cindy, und ihr Lächeln wurde breiter. Ich bin drüber weg.
»Hast du Hunger?«, fragte sie Neil mit frischer Energie. »Durst?«
»Ich bin bloß müde und will schlafen.«
Cindy spürte, wie ihr Körper erstarrte. Schlafen, dachte sie beklommen. Vielleicht auch träumen! »Schnell«, sagte sie. »Zähle alle sieben Zwerge auf.«
»Wie bitte?«
»Aus Schneewittchen . Du weißt schon, Schlafmütze, Pimpel, Brummbär, Chef, Happy …«
»Cindy, was ist los?«
»Was soll denn los sein? Warum denkst du, dass irgendwas los ist?«
»Weil es
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