Bevor der Abend kommt
wichtigere Dinge zu tun …«
»Wichtiger als die Hochzeit deiner Enkelin?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Warum ist Cindys Tochter wichtiger als meine?«
»Falls du es noch nicht bemerkt hast«, ging Cindy dazwischen, »meine Tochter wird vermisst.« Dann brach sie wütend und verwirrt in Tränen aus.
»Cindy«, sagte ihre Mutter und eilte zu ihr.
»Lass sie in Ruhe, ja. Hör auf, sie wie ein Kleinkind zu bemuttern.«
»Was ist bloß mit dir los?«, herrschte Norma Appleton ihre jüngere Tochter an. »Warum führst du dich so auf?«
»Weil ich es gründlich leid bin, nie beachtet zu werden.«
»Wer beachtet dich denn nicht?«
»Ich verlasse praktisch meine Familie, um herzukommen, ich koche für euch, ich mache sauber …«
»Niemand hat dich darum gebeten.«
»Und das habe ich im Grunde mein ganzes Leben lang getan«, zeterte Leigh. »Wer war denn kurz nach deiner Hochzeit für dich da? Wer hat dafür gesorgt, dass du dich mit Mom und Dad wieder ausgesöhnt hast? Wer war zur Stelle, als dein wunderbarer Ehemann dich verlassen hat? Wer hat neben dir gesessen und mit dir wieder und wieder diese verdammte Nachricht angehört, die er auf den Anrufbeantworter gesprochen hat? Wer ist herbeigeeilt, als Julia beschlossen hat, dass sie bei ihrem Vater leben wollte? Wer hat die ganze Nacht wach gesessen, während du dir die Seele aus dem Leib geweint hast?«
»Du!«, rief Cindy und schlug mit den Fäusten in die Luft wie ein Boxer, der auf einen unsichtbaren Gegner einprügelte. » Du. Du. Du . Immer die Erste am Unfallort. In Krisenzeiten immer zur Stelle. Sag mir, wann du sonst mal kommst?«
Schweigen. »Wann lässt du mich denn sonst je herein?«
Die beiden Schwestern starrten sich an. Es klingelte.
»Scheiße«, sagte Cindy.
»Scheiße«, wiederholte Leigh wie ein Echo.
»Scheiße«, sagte ihre Mutter.
Keiner rührte sich.
Es klingelte erneut.
»Ich mach auf«, sagte Norma Appleton schließlich und ging langsam in den Flur. »Kann ich euch zwei alleine lassen?«, fragte sie und drehte sich noch einmal um.
Es klingelte zum dritten Mal.
»Komme.« Norma Appleton eilte die Treppe hinunter. »Bin schon unterwegs. Immer mit der Ruhe.«
»Erwartest du irgendwen?«, fragte Leigh.
Cindy schüttelte den Kopf und lauschte auf Stimmen. »Ich
weiß, es ist dumm«, sagte sie, »aber jedes Mal, wenn es klingelt, denke ich, es könnte Julia sein.«
»Ich auch«, sagte Leigh.
Im nächsten Moment war Cindy in den Armen ihrer Schwester und weinte an ihrer Schulter.
»Oh Cindy«, flüsterte Leigh, die jetzt ebenfalls weinte. »Es tut mir so Leid. Du weißt, dass ich das, was ich eben gesagt habe, nicht so gemeint habe.«
»Nein, du hattest Recht. Ich habe dich schlecht behandelt.«
»Nein, das hast du nicht.«
»Ich habe mich nie für all das bedankt, was du für mich getan hast.«
»Ich brauche keinen Dank.«
»Doch, den brauchst du wohl«, erklärte Cindy ihr. »Du hast allen Dank verdient. Und alle Wertschätzung.«
Leigh lächelte traurig und drückte ihre Schwester an sich. »Es war wahrscheinlich kein idealer Zeitpunkt, um Unsere kleine Stadt zur Sprache zu bringen.«
»Ich bin sicher, dass du fantastisch warst.«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.« Cindy strich eine widerborstige Locke aus dem Gesicht ihrer Schwester. »Habe ich dir schon gesagt, wie sehr mir deine Haarfarbe gefällt?«
»Wirklich? Weil ich nämlich überlegt hatte, vielleicht ein paar Strähnen dunkler färben zu lassen.«
»Das wäre bestimmt auch hübsch.«
»Cindy«, rief ihre Mutter aus dem Flur. »Komm und sieh dir an, was für dich gekommen ist.«
»Was ist es denn?«
»Sieht aus wie eine Pflanze.« Norma Appleton riss bereits das Zellophanpapier ab, als Cindy und Leigh nach unten kamen.
Cindy nahm den kleinen weißen Umschlag, der mit einer Nadel an die Verpackung geheftet war, während ihre Mutter ein hinreißendes Usambaraveilchen enthüllte.
Ich denke an dich , stand auf der Karte. Martin Crawley .
Cindy lachte, steckte die Karte in die Tasche ihres Nachthemds und spürte sie warm an ihrer Brust.
»Von wem ist sie?«
Cindy lächelte. »Von meinem Steuerberater«, sagte sie.
»Er macht einen sehr netten Eindruck«, gab Leigh zu, nahm ihrer Mutter die Pflanze aus der Hand und trug sie in die Küche. »Ich dachte, ich mache mein berühmtes Huhn in Zitrone, das Julia so gerne mag, und friere es ein«, rief sie, »damit sie etwas davon essen kann, wenn sie nach Hause kommt. Was meinst du?«
»Ich
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