Bevor der Abend kommt
»Wo sind denn alle?«, fragte Cindy und wunderte sich über die fehlenden Schlangen, die auf den Einlass zum nächsten Film warteten.
»An der Ecke ist irgendwas passiert«, sagte Meg.
Als sie die Ecke Yonge Street und Bloor Street erreichten, stand eine Menge von mehreren hundert Leuten in fassungslosem Schweigen unter dem riesigen TV-Bildschirm an einem flachen Gebäude, auf dem die beiden entführten Flugzeuge wiederholt und aus einer Vielzahl Grauen erregender Perspektiven in die riesigen Zwillingstürme rasten. Zusammen mit Meg hatte Cindy mit offenem Mund und blankem Entsetzen zugesehen, wie die Türme Stockwerk für Stockwerk eingestürzt waren wie eine Banane, die von oben nach unten geschält wurde, während sich der Schutt in die Straßen von New York ergossen hatte und alles auf seinem Weg mit widerlichem grauem Staub bedeckt hatte.
Damals hatte Cindy gedacht, etwas Schlimmeres könnte es nicht geben.
Leigh betrat das Schlafzimmer. »Du musst mit Mom reden«, sagte sie. Ihre sommersprossigen Knie ragten aus ihren hellen Khakishorts, und ihre ärmellose weiße Bluse bildete einen scharfen Kontrast zu ihren dunkel gebräunten Armen. »Sie hat die Anprobe bei Marcel abgesagt. Was guckst du da?« Sie hob die Fernbedienung vom Bett und drückte den Aus-Knopf.
»Was machst du?« Cindy nahm ihr die Fernbedienung ab und schaltete den Fernseher wieder ein.
Daraufhin entwendete Leigh Cindy das Teil aus der Hand und schaltete den Fernseher ein weiteres Mal aus. »Du solltest dir das nicht ansehen.«
»Was soll das heißen, ich sollte mir das nicht ansehen? Wovon redest du überhaupt?«
»Es wird dich bloß aufregen.«
»Gib mir das Ding«, forderte Cindy ihre jüngere Schwester auf, worauf diese die Fernbedienung hinter ihrem Rücken verbarg. Cindy sprang aus dem Bett und versuchte, um ihre Schwester herumzugreifen. »Ich warne dich, Leigh. Gib es zurück.«
»Nein.«
»Leigh …«
»Nein.«
»Oh, Herrgott noch mal.« Cindy ging zum Fernseher und schaltete ihn mit triumphierender Miene am Gerät selber ein.
Ihre Schwester war direkt hinter ihr und machte ihn wieder aus.
»Was zum Teufel soll der Mist?«
»Ich schütze dich.«
»Du schützt mich? Wovor?«
»Vor dir selbst.«
»Vor mir selbst«, wiederholte Cindy ungläubig.
»Um deinen gesunden Menschenverstand steht es in letzter Zeit ja nicht gerade zum Besten.«
»Um meinen gesunden Menschenverstand steht es nicht zum Besten.« Cindy schüttelte den Kopf. »Wovon redest du eigentlich?«
»Ich rede davon, dass du zuerst mit deinem Steuerberater geschlafen hast, um anschließend mit deinem Ex-Mann ins Bett zu gehen …«
Cindy verdrehte die Augen. »Weder ist Neil mein Steuerberater, noch bin ich mit Tom ins Bett gegangen.«
»Aber nur, weil Heather euch überrascht hat.«
»Als sie hereingeplatzt ist, war es schon vorbei.«
»Was war vorbei? Du hast doch gesagt, es wäre nichts passiert.«
»Es ist auch nichts passiert.«
»Aber um ein Haar wäre etwas passiert, und genau das meine ich.«
Cindy ließ sich aufs Bett sinken. »Diese Unterhaltung ist vollkommen sinnlos.«
»Du musst dich anziehen«, sagte Leigh.
Cindy blickte an ihrem gelben Nachthemd hinab. »Wieso?«
»Es ist fast Mittag, und du bist immer noch im Schlafanzug.«
Cindy warf ihrer Schwester einen Blick zu, der sagen sollte: Na und?
Leigh betrat entschlossen Cindys begehbaren Kleiderschrank.
»Was hast du vor? Was machst du?«
Kurz darauf erschien ihre Schwester mit einer schwarzen Caprihose und einem grün-weiß gestreiften Oberteil, die sie zusammen mit frischer Unterwäsche aufs Bett warf. »Hier. Zieh das an.«
»Ich will das aber nicht anziehen.«
»Ich verlasse das Zimmer erst wieder, wenn du dich angezogen hast.«
»Dann solltest du es dir lieber bequem machen, denn ich ziehe das nicht an.«
»Herrgott, Cindy. Du bist schlimmer als meine Kinder.«
»Herrgott, Leigh. Du bist schlimmer als unsere Mutter.«
»Cindy …«
»Leigh …«
Patt, dachte Cindy.
»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Leigh und stemmte beide Hände in die Hüften, wobei die Fernbedienung mit ihrer Hand verwachsen schien.
Cindy schüttelte den Kopf. »Okay, okay. Du hast gewonnen.«
»Du ziehst dich an?«
»Aber ich brauche Hilfe.« Cindy zupfte an ihrem Nachthemd.
Leigh kam misstrauisch auf sie zu. »Was für Hilfe denn?«
Im nächsten Moment stürzte Cindy sich auf ihre Schwester, riss sie zu Boden und griff nach der Fernbedienung.
»Was machst du?«, keuchte
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