Bevor der Abend kommt
Mitternacht ist und wir über Schneewittchen und die sieben Zwerge reden. Was ist los? Möchtest du, dass ich nach Hause fahre?«
»Nein, ich möchte natürlich, dass du bleibst.«
»Bist du ganz sicher? Denn wenn es dir in irgendeiner Weise nicht angenehm ist …«
»Das ist es nicht.« Cindy nahm ihren Bademantel, stand auf, trat ans Fenster, öffnete die Läden, starrte über den Garten hinweg auf die Dächer der großen Häuser an der Clarendon Avenue und fragte sich abwesend, welche Geheimnisse sich darunter verbargen.
»Was ist es denn?«, fragte Neil, trat hinter sie und legte seine Arme um sie.
»Ich schlafe zurzeit bloß ein bisschen unruhig.«
»Das ist verständlich.«
»Ich weiß nicht, wie verständnisvoll du bist, wenn ich dich in ein paar Stunden mit meinem Geschrei wecke.«
»Hast du Alpträume?«
»Ich weiß nicht, wie man es nennen soll. Es ist total bescheuert.« Cindy erzählte Neil, dass sie Nacht für Nacht mit dem Gefühl aufwachte, sie müsse sterben, weil sie vergessen hatte, irgendwelche nicht existierenden Tabletten zu nehmen. »Meine Mutter sagt, es wären die Hormone. Meine Schwester hält es für ein natürliches Nebenprodukt meiner Angst und Sorge. So oder so macht es mich völlig verrückt.«
»Ich glaube, da kann ich dir vielleicht helfen«, bot Neil an.
»Wirklich? Wie denn?«
»Komm her.« Neil führte sie zum Bett zurück und verschwand in dem angrenzenden Badezimmer. Cindy hörte ihn im Medizinschrank kramen und Wasser laufen.
»Ich will keine Schlaftabletten«, sagte sie, als er mit einem Glas Wasser in der Hand zurückkam.
»Du musst schlafen, Cindy.«
»Nicht alles lässt sich mit einer Tablette heilen.«
»Probier mal die hier.« Neil hockte sich neben das Bett und öffnete die Faust.
Cindy starrte in seine leere Hand. »Was ist das – des Kaisers neue Pillen?«
»Nimm so viele, wie du brauchst.«
Cindy lächelte und blickte in seine tiefblauen Augen. »Und du meinst wirklich, dass das funktioniert?«
»Schaden kann es nicht. Los. Ärztliche Anweisung.«
Cindys Finger schwebten zögernd über den unsichtbaren Tabletten. Sie nahm eine, führte sie zum Mund, legte sie auf ihre Zungenspitze und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Dann streckte sie die Hand aus und nahm eine weitere.
»Warum nimmst du nicht noch eine, als Glücksbringer.«
»Als Glücksbringer«, stimmte Cindy ihm zu und schluckte auch die dritte unsichtbare Tablette, bevor sie Neil das Glas Wasser zurückgab. »Und was jetzt?«
Neil stellte das leere Glas auf den Nachttisch, schlüpfte unter die Decke und nahm sie in die Arme. »Gute Nacht, Cindy«, sagte er und küsste sie sanft. »Schlaf gut.«
Als Cindy am nächsten Morgen um halb acht aufwachte, war Neil schon unter der Dusche. »Unglaublich, aber wahr. Die verdammten Tabletten haben tatsächlich gewirkt.« Sie lachte laut und überlegte, ob sie zu Neil unter die Dusche steigen sollte, als das Telefon klingelte.
»Cindy, hier ist Ryan Sellick«, dröhnte die Stimme durch die Leitung. »Ich weiß, es ist früh, und unter den Umständen bin ich wahrscheinlich der Letzte, von dem Sie angerufen werden wollen, aber …«
Neil trat aus dem Bad und trocknete sich mit einem Handtuch die Haare ab.
»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte Cindy, und Neils Miene fragte dasselbe. »Mein Nachbar«, flüsterte sie, eine Hand auf der Sprechmuschel.
»Glauben Sie mir, ich würde Sie nicht anrufen, wenn ich nicht absolut verzweifelt wäre.«
»Was ist denn los, Ryan?«
Neil küsste Cindy auf die Stirn und begann, seine Kleidung zusammenzusuchen.
»Sie waren bloß immer so nett zu Faith, und ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.«
»Geht es Faith gut?«
»Sie hat ein paar harte Tage hinter sich. Sie war fast die ganze Nacht wach und ist erst vor einer Viertelstunde eingeschlafen. Leider habe ich den ganzen Tag in Hamilton zu tun.«
»Möchten Sie, dass ich nach ihr sehe?«
»Ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht auf Kyle aufpassen
können, bis Faith aufwacht. Ich weiß, es ist eine ganz schlechte Zeit, Sie das zu fragen. Vor allem weil Sie glauben, ich könnte …« Er zögerte. »Ich werde bloß in einer knappen halben Stunde abgeholt und …«
»Okay«, sagte Cindy, während sie zusah, wie Neil sich anzog.
»Okay?«
»Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen«, sagte Cindy.
»Danke. Cindy …«
»Was?«
Nach kurzem Schweigen sagte Ryan: »Bitte, glauben Sie mir, dass ich nichts mit Julias Verschwinden zu
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