Bevor der Abend kommt
und
lachte laut, ein Geräusch, das an der Dunkelheit kratzte wie ein Eispickel an Eis. Nun gut. Es würde sie zumindest davon abhalten, in fremder Leute Häuser und Büros zu platzen und die polizeilichen Ermittlungen zu stören. Ha, dachte sie und lachte noch einmal.
Am Fuße des Abhangs bog sie rechts ab, rannte die Cottingham hinunter, betrachtete die Doppelhäuser aus braunem Sandstein, die beide Straßenseiten säumten, und fragte sich, welche Abgründe sich wohl hinter Jalousien und antiken Spitzengardinen auftaten. Sie verlangsamte ihre Schritte, als sie sich zwei Frauen näherte, die sich über einen niedrigen, weißen Gartenzaun hinweg unterhielten. Beide waren blond. Keine von ihnen war Julia.
»Was ist bis jetzt dein Lieblingsfilm?«, fragte die eine.
»Ich schwanke zwischen The Magdelene Sisters und L’Homme du Train . Sie waren beide großartig.«
»Irre ich mich, oder ist die Qualität der Filme in diesem Jahr insgesamt besser?«
Cindy nahm ihr vorheriges Tempo wieder auf, lief an den beiden jungen Frauen vorbei, bog links und noch einmal links ab und rannte forsch die Rathnelly Avenue hinunter, eine schrullige kleine Straße, deren noch schrulligere Bewohner ihre Straße einmal zur unabhängigen Republik ausgerufen hatten. Sie wandte sich, gefolgt von Elvis, erneut nach links und wusste, dass sie nicht aufhören durfte, dass sie weiterrennen, links und rechts und wieder rechts abbiegen musste, bis eine vertraute Straße mit der nächsten verschwamm. So lief sie weiter in der Hoffnung, zu verschwinden und sich in der einladenden Dunkelheit zu verlieren.
Sie rannte neben den Gleisen entlang der Dupont Street, vorbei an dem winzigen Tarragon Theater in der Bridgeman, wo sie einmal ein Abonnement gehabt hatte, und vorbei an dem majestätischen alten Casa Loma, wo Meg ihre Hochzeit gefeiert hatte, weiter über die Brücke an der Spadina Road, zurück
über die St. Clair Avenue und zuletzt die Poplar Plains Road hinunter bis zur Balmoral Avenue.
Als sie die Ecke erreichte, sah sie, wie Ryan und Faith Sellick gerade in ihre Einfahrt bogen, aus dem Wagen stiegen und ihren Sohn die Treppe vor der Haustür hinauftrugen, bevor sie in ihrem Haus verschwanden.
Zu Hause, dachte sie und blieb abrupt stehen.
Wohin hatte all ihr Gerenne sie geführt? Dorthin zurück, wo alles angefangen hatte.
Sie würde es nicht schaffen zu verschwinden, selbst wenn sie es versuchte.
Kurz nach zwei Uhr in der Früh klingelte Cindys Telefon.
»Ist dort Cindy Carver?«, fragte eine Stimme, die sie schlagartig aus dem Schlaf riss.
»Wer ist da?«
»Hier ist Officer Medavoy, Wache 53. Bezirk. Wir haben Ihre Tochter, Mrs. Carver«, begann der Polizist.
Er redete noch, als Cindy das Telefon längst hingeworfen hatte und zur Tür stürzte.
30
Die Wache des 53. Bezirks des Metropolitan Police Departments war an der Ecke Eglinton Avenue und Duplex Avenue, gegenüber der U-Bahn-Station Eglinton in einem mit Efeu bewachsenen roten Backsteingebäude mit einem auffälligen Glasatrium über dem Eingang untergebracht. Cindy fuhr auf den schmalen Parkplatz hinter dem Haus, parkte zwischen zwei schwarz-weißen Streifenwagen und rannte die Duplex Avenue hinunter zum Eingang des dreistöckigen Gebäudes. Als sie die gläserne Doppeltür am Eingang erreichte, hatte sie Krämpfe in den Beinen, sodass sie stehen blieb, ihre Schenkel massierte und dabei tief durchatmete, um sich zu beruhigen.
Sie hatten Julia gefunden. Sie lebte.
»Ich bin Cindy Carver«, erklärte sie, als sie durch die Tür platzte und auf den langen Tresen zustürzte, der den hohen Raum in der Mitte teilte. »Wo ist meine Tochter?«
Eine dunkelhaarige Frau mit breiter Stirn und langer, spitzer Nase saß an einem der vier Schreibtische hinter dem Tresen. Sie sprang sofort auf und sah sich nervös um, bevor sie ihren besorgten Blick wieder Cindy zuwandte. »Verzeihung?«, sagte sie und strich abwesend ihre Polizeiuniform glatt.
»Meine Tochter, Julia Carver. Irgendjemand hat mich angerufen … Officer Medavak …«
»Medavoy«, korrigierte die Polizistin sie.
»Wo ist er?«
»Ich werde sehen, ob ich ihn finden kann.«
Cindy nickte und überflog das Schwarze Brett an der Wand, an dem sich Fotos vermisster Kinder drängelten, während die
Polizistin gemächlich zur anderen Seite des großen Raumes schlurfte. Cindy musste sich auf die Zunge beißen, um sie nicht laut zur Eile anzutreiben: Beweg dich!
Die Polizistin blieb plötzlich stehen und drehte
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