Bevor der Abend kommt
trippelte langsam zu ihrem Sessel und legte den Kopf auf ihren Schoß. Bei aller Sorge musste Cindy lächeln, und sie tätschelte dankbar seinen Kopf. »Was ist mit Sean Banack?«
»Seine Alibis sind hinreichend überprüft.«
»Hinreichend?«
»Es scheint äußerst unwahrscheinlich, dass er etwas mit Julias Verschwinden zu tun hat.«
»Was ist mit Michael Kinsolving? Mit Duncan Ross? Mit anderen Freunden von Julia?«
»Bis jetzt nichts.«
»Das heißt, Sie sind keinen Schritt weiter als vor zwei Wochen. Sie sind im Grunde, wenn überhaupt, eher noch ratloser.« Hatte sie nicht irgendwo gelesen, dass die Spuren in einem Fall immer kälter wurden, je länger er sich hinzog? »Was genau unternehmen Ihre Leute, um meine Tochter zu finden, Detective?«
»Wir machen unseren Job«, erklärte der Detective schlicht. »Und Sie machen uns die Arbeit nicht leichter, indem Sie in fremder Leute Häuser stürmen und sich in unsere Ermittlungen einmischen.«
»Ich bin nicht ins Haus der Sellicks gestürmt, ich wurde gebeten.«
»Sie wissen, was ich meine.«
»Ich soll also einfach dasitzen und nichts tun?«
»Genau das sollen Sie tun.«
»Ich glaube nicht, dass ich das kann.«
»Sie haben gar keine andere Wahl, Mrs. Carver.«
Cindy ballte die Faust im Schoß und schluckte einen weiteren Schrei herunter. Sofort stieß Elvis mit seiner feuchten Nase gegen ihre Hand und verlangte, weitergekrault zu werden. Abwesend tat Cindy ihm den Gefallen. Sie hörte das Echo von Detective Gills Worten in ihrem Kopf – Sie haben gar keine andere Wahl – und fragte sich, wie viele wichtige Ereignisse in ihrem Leben ohne ihre Zustimmung geschehen waren. So etwas wie eine freie Wahl gab es gar nicht, dachte sie. Es war eine Illusion, eine tröstende, aber irrige Vorstellung, die die Menschen entwickelt hatten, um sich vorzumachen, dass sie ihr Leben kontrollieren würden.
Kontrolle – eine weitere Illusion.
»Mrs. Carver«, sagte Detective Gill. »Haben Sie verstanden, was ich gerade gesagt habe?«
»Ja, ich verstehe, Detective Gill. Ich bin schließlich kein Idiot.«
»Dann hören Sie bitte auf, sich wie einer zu benehmen«, sagte er mit einer unvermittelten Schärfe in seinem weichen jamaikanischen Akzent. »Sonst könnten Sie am Ende noch die ganze Ermittlung sabotieren«, fuhr er freundlich fort. »Oder Schlimmeres. Sie könnten verletzt werden. Und was würde das irgendwem nützen?«
»Sie haben Recht.« Cindy sah sich in der Küche um und dachte, dass sie wahnsinnig werden würde, wenn sie nicht bald von diesem Telefon weg- und aus diesem Haus herauskommen würde. »Tut mir Leid, Detective. Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Wir bleiben in Kontakt.«
»Danke.« Cindy legte den Hörer auf und sprang auf, sodass Elvis neben ihr in Hab-Acht-Stellung ging. »Wir müssen hier raus«, erklärte Cindy dem Hund, der unverzüglich seine Leine zur Haustür trug, weil er vielleicht nicht ihre Worte, aber ihre Absicht verstanden hatte.
Kurz darauf liefen die beiden die Straße hinunter Richtung Avenue Road.
Sie rannten den steilen Abhang zwischen der Edmund Street und der Cottingham Road hinunter. Auch um neun Uhr abends war die Avenue Road immer noch belebt. Der Verkehr floss dreispurig in beide Richtungen, und Fußgänger schlenderten auf beiden Bürgersteigen – Jogger, Menschen, die ihren Hund ausführten, Paare auf einem Abendspaziergang. Es war schließlich so ein schöner Abend. Der Sommer dauerte an, sturer als üblich.
In ein paar Monaten würde dieser Hügel tückisch wie ein Eisberg sein. Cindy erinnerte sich an Winter, in denen dieser Straßenabschnitt praktisch unpassierbar war, wenn Wagen am Abhang ausgebremst wurden, ihre Räder sich ziellos drehten, bis die Schwerkraft das Fahrzeug wieder bergab zog, wo es mit anderen kollidierte, die nicht ausweichen konnten, sodass es Staus bis zum Queen’s Park gab.
Cindy kam an einem älteren Paar vorbei, das Hand in Hand ging, wobei die Frau sich auf das Geländer am Straßenrand stützte, um das Gefälle zu bewältigen. Sie überholte einen Jogger in knallorangefarbenen Shorts und topmodernen Laufschuhen und fragte sich, was sie eigentlich tat. Sie war keine Joggerin und schon gar keine Langstreckenläuferin, trotzdem sprintete sie in Jeans und Sandalen, die ihren Füßen keinerlei Halt gaben, einen steilen Hügel hinunter, gefolgt von einem unberechenbaren und nicht zu bändigenden Terrier. Am nächsten Morgen würde sie steif sein wie ein Brett, dachte sie
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