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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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sich zu Cindy um. »Verzeihung. Wie war noch mal Ihr Name?«
    »Cindy Carver.« Was war los mit der Frau, dachte Cindy. Wusste sie nicht, wer sie war? Las sie keine Zeitung? Hatte sie Julias Foto nicht gesehen, das seit etlichen Tagen auf allen Titelseiten gedruckt wurde? Genau genommen hatten sie in letzter Zeit gar keine Fotos mehr von Julia gebracht, seit Sally Hansons Freund wegen Mordes verhaftet worden und es damit eher unwahrscheinlich geworden war, dass ein Serienmörder frei in der Stadt herumlief. War es möglich, dass man Julia bereits vergessen hatte? Hatte Tom doch Recht gehabt – aus den Augen, aus dem Sinn?
    »Tom«, dachte sie und sprach seinen Namen laut aus. War er hier? Hatte irgendjemand daran gedacht, ihn anzurufen?
    Sie jedenfalls nicht, dachte sie mit einem schlechten Gewissen, obwohl sie auch nicht besonders klar gedacht hatte, als der Beamte angerufen hatte. Ihr war gerade noch eingefallen, sich anzuziehen, bevor sie aus dem Haus gestürmt war. Sie blickte an ihrem schwarzen Sweatshirt mit V-Ausschnitt herab und hoffte, dass es sauber war und nicht roch. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal gewaschen hatte. Nicht seit ihre Schwester nach Hause gefahren war, dachte sie und überlegte, ob sie Leigh anrufen und ihr die gute Nachricht mitteilen sollte. Und ihre Mutter. Die sollte sie auch anrufen. Und Tom. Irgendjemand sollte Tom anrufen.
    Sie tastete nach dem Handy in ihrer Handtasche, schloss die Hand darum, ließ es dann wieder los und die Hand sinken. Bevor Tom kam, wollte sie erst ein wenig Zeit mit Julia allein haben. Cindy wusste, dass das schrecklich egoistisch war, aber sie wusste auch, dass sie ebenso gut verschwinden konnte, wenn Tom die Szene erst einmal betreten hatte. Es gab keine Frage,
wem Julias Loyalität galt. Cindy wollte – sie brauchte – ein paar Minuten alleine mit ihrer Tochter, bevor Tom mühelos die Kontrolle übernahm. Sie brauchte diese kostbaren Minuten, um Julia zu berühren, sie zu umarmen und ihr zu sagen, wie sehr sie sie liebte. Sie brauchte Zeit, um ihre Ansprüche zu erheben.
    Wenn es nicht schon zu spät war.
    Wenn Tom nicht längst da war. Wenn man ihn nicht zuerst angerufen hatte – natürlich hatte man ihn zuerst angerufen – und er vor ihr eingetroffen war. Für ihn waren es nur fünf Minuten Fahrt, Herrgott noch mal, vor allem um zwei Uhr morgens, wo kaum jemand auf den Straßen unterwegs war, während sie fast dreimal so lange gebraucht hatte. Sie hatte die falsche Abzweigung genommen und war am Chaplin Crescent Richtung Westen abgebogen, obwohl sie genau wusste, dass sie in die andere Richtung gemusst hätte. Dann war sie hinter irgendeinem Komiker hergeschlichen, der strikt unter dreißig Stundenkilometer gefahren war. Wohin wollte der Idiot überhaupt? Warum lag er nicht zu Hause im Bett? Was machte er morgens um zwei auf der Straße, ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar und wässrigen Augen, der sie wütend ansah, als sie ihn rechts überholte? Und dann hatte sie vergessen, welche Seitenstraße der direkteste Weg war, und hatte sich tatsächlich verirrt, ausgerechnet jetzt , wo man ihre Tochter gefunden hatte.
    Tom hatte zweifelsohne mit der gebotenen Ruhe gehandelt, sich angemessen höflich bei der Polizistin hinter dem Tresen vorgestellt, die seinem Charme natürlich augenblicklich erlegen war und ihn unverzüglich und ohne weitere Aufforderung in das hintere Zimmer geführt hatte. Wahrscheinlich hatte er darum gebeten, ein paar Minuten mit seiner Tochter allein zu sein, und deshalb dauerte es jetzt so lange.
    Oder er hatte Julia bereits mit nach Hause genommen, weshalb es jetzt Ewigkeiten dauerte, diesen Officer Madavak oder Medicare, oder wie immer er hieß, zu finden. Warum war er nicht da? Und wo waren die Detectives Bartolli und Gill? Warum
hatte keiner von ihnen angerufen, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen?
    Es sei denn, die Nachricht war gar nicht gut, dachte Cindy plötzlich, und ihr Magen drehte sich tumultartig, ihre ohnehin weichen Knie gaben weiter nach. Es sei denn, es gab etwas, was sie ihr verschwiegen.
    Die Eingangstür ging auf, und Cindy fuhr herum. Ein uniformierter Beamter – überraschend klein, kräftig und mit dem typischen Stiernacken – betrat den Raum und begrüßte sie.
    »Officer Medavoy?«, fragte Cindy voller Hoffnung.
    »Nein, tut mir Leid. Suchen Sie ihn?«
    »Ich bin Cindy Carver. Officer Medavoy hat mich angerufen, um mir mitzuteilen, dass Sie meine Tochter haben.« Hatte

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