Bevor der Abend kommt
Faith Sellick, Kyle fest an die Brust gepresst, aus dem Haus kommen, die Stufen hinuntereilen und auf der anderen Seite des Hauses verschwinden sah. Wie Cindy war auch Faith zum ersten Mal seit Wochen schick gekleidet, der karierte Schlabberschlafanzug war einem wadenlangen, blauen Baumwollkleid gewichen, das Haar zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden, der pfeilgerade in ihrem Rücken hing. Sekunden später tauchte sie wieder auf und schob Kyles Kinderwagen Richtung Straße, während der Kleine lauthals schrie.
Cindy fragte sich, wohin Faith so früh am Morgen wollte, und bemühte sich zu erkennen, in welche Richtung sie ging. Doch dann zog sie den Kopf plötzlich ein wie eine erschreckte Schildkröte, die sich unter ihren Panzer verkriecht, weil Faith sich unvermittelt umgedreht hatte, als spürte sie Cindys wachsamen Blick.
Cindy wartete einen Moment und spähte dann wieder hinaus, um Faiths eiligen Abgang weiter zu beobachten. Ryans Wagen stand noch in der Einfahrt, und Cindy fragte sich, ob er wusste, wohin seine Frau unterwegs, oder auch nur, dass sie überhaupt weg war. Sie erwog, ihn anzurufen und ihn wegen des Verschwindens seiner Frau zu alarmieren, überlegte es sich dann aber anders, weil sie wusste, dass sie bestimmt der letzte Mensch auf der Welt war, von dem er unter den gegebenen Umständen hören wollte.
Was hatte Julia bloß geritten, sich mit einem verheirateten Mann einzulassen? Sie hätte sich jeden Mann aussuchen können, den sie haben wollte. Warum hatte sie diesen gewählt?
Noch bevor sie diese Frage in ihrem Kopf ausformuliert hatte, wusste Cindy die Antwort. Julia hatte sich zu Ryan Sellick hingezogen gefühlt, weil er eine jüngere Version des Mannes war, den sie am meisten liebte. Ob bewusst oder unbewusst, Julia hatte sich einen Mann ausgesucht, der genauso war wie ihr lieber alter Daddy.
»So geht’s«, murmelte Cindy und beobachtete, wie Faith den Kinderwagen zwischen zwei parkenden Autos hindurch auf die Straße schob. Wohin wollte sie bloß so eilig, fragte Cindy sich erneut, ließ die Zeitungen sinken, trat auf den Treppenabsatz vor dem Haus und beobachtete, dass Faith links in die Avenue Road einbog.
Beinahe ohne zu überlegen, schnappte Cindy sich ihre Handtasche aus dem Garderobenschrank im Flur und setzte ihr nach, sorgfältig darauf bedacht, im Schatten zu bleiben und einen Sicherheitsabstand zu wahren. Faith bewegte sich schnell, und Cindys Beine waren von ihrem unbedachten Marathon am Vorabend noch ganz steif. Jedes Mal, wenn Cindy versuchte, größere Schritte zu machen und Tempo aufzunehmen, rebellierten sie spürbar. An der Ecke Avenue Road und St. Clair Avenue hätte sie Faith beinahe verloren, als jene eine Ampel noch bei Grün erwischte, während sie warten musste, doch dann entdeckte sie sie etliche Blocks die Straße hinunter vor dem Granite Place, zwei großen Appartementkomplexen, die ein gutes Stück von der Straße zurück lagen.
An der Ecke St. Clair Avenue und Yonge Street blieb Faith stehen, obwohl die Fußgängerampel auf Grün war. Wieder drehte sie sich um, als ob sie den Verdacht hatte, verfolgt zu werden, und Cindy musste sich im Eingang von Black’s One-Hour-Foto verstecken, um nicht entdeckt zu werden. Keuchend wischte sie einen dünnen Schweißfaden ab, der in den V-Ausschnitt ihrer Bluse rann, bevor er ihren BH erreichte. Es war erst halb acht, doch die Temperatur kletterte bereits Richtung 25 Grad. Ihr war heiß, sie war verschwitzt, in der feuchten Luft hatten sich ihre Haare zu festen kleinen Locken zusammengezogen, die sich um ihren Kopf rankten wie Reben. So viel zu dem Plan, den äußeren Schein zu wahren, dachte sie und hörte Schritte, die sich zögernd näherten. Sie atmete tief ein und wappnete sich für eine weitere unangenehme Konfrontation mit ihrer Nachbarin.
Doch die Frau, die an ihr vorbeiging, warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu, sorgsam bedacht, einen großen Abstand zwischen ihnen zu wahren, als hätte sie Angst, Cindy wäre einer der Verrückten, die durch die Straßen wanderten, bettelten und vor sich hin murmelten. Und vielleicht hatte die Frau ja Recht, dachte Cindy. Vielleicht war sie verrückt. Wie anders waren ihre Handlungen zu erklären. Einen Tag nachdem die Polizei ihr befohlen hatte, sich aus der Sache herauszuhalten, verfolgte sie ihre Nachbarin wie eine in die Jahre gekommene Nancy Drew. Was war mit ihr los? Warum konnte sie sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern? So viel zu dem Plan,
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