Bevor der Abend kommt
was?«
»Findest du nicht, es ist noch ein bisschen früh, um die Kavallerie in Marsch zu setzen?«
»Wusstest du, dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat?«
»Ja, das wusste ich. Na und? Der Junge ist ein Versager.«
»Ein sehr wütender Versager«, sagte Cindy. »So wütend, dass er eine wirklich gruselige Geschichte über einen Mann geschrieben hat, der seine frühere Freundin kidnappt und zu Tode foltert.«
Tom winkte ab, als wollte er eine lästige Fliege vor seinem Gesicht verscheuchen. »Meinst du nicht, dass du ein wenig überreagierst?«
»Findest du? Nun, die Polizei war anderer Meinung. Mann hat mich um ein aktuelles Foto von Julia gebeten.« Sie klopfte auf ihre Hosentasche und versuchte, die Bilder darin zu verdrängen.
»Ich verstehe immer noch nicht, wann genau du mit der Polizei gesprochen hast.«
»Das kann ich Ihnen erklären«, sagte Neil und machte Tom und Fiona ein Zeichen, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. »Such du ein Foto«, wies er Cindy an.
»Und welche Rolle spielen Sie in dem Ganzen?«, fragte Tom Neil, als Cindy den Raum verließ und gefolgt von Elvis die Treppe hinaufrannte.
Vor Julias Zimmer blieb sie etliche Sekunden reglos stehen, als würde sie darauf warten, hereingebeten zu werden, während Elvis’ Schwanz fröhlich gegen die Tür schlug. Es würde ihrer Tochter genauso wenig gefallen, dass sie in ihrem Zimmer herumschnüffelte, wie es Cindy gefallen hatte, Tom auf der verkehrten Seite der Haustür zu sehen. Wie konnte er es wagen, ihr Haus zu betreten, es sich dort gemütlich zu machen und diese blöde Gans, die er geheiratet hatte, in ihr Heim zu bringen, als müsste er ihr sein neues Leben unter die Nase reiben – was war mit ihm los? Glaubte er, dass er, bloß weil er früher einmal hier gelebt hatte, eine Art Aufenthaltsrecht besaß?
Ich verdiene das Geld. Ich treffe die Entscheidungen .
Cindy atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Worüber war sie eigentlich so wütend? Über die Tatsache, dass Tom offenbar reichlich unbesorgt war, was den Verbleib ihrer Tochter betraf, oder darüber, dass er nach all den Jahren und trotz allem, was geschehen war, immer noch so verdammt gut aussah und ihr nach wie vor weiche Knie machen konnte? »Das ist ungerecht«, murmelte sie und drehte sich hilflos im Kreis, während sie sich fragte, wo Julia ihre jüngsten Porträts verstaut haben könnte. Wahrscheinlich am selben Ort, wo sie auch ihr Adressbuch aufbewahrte, dachte Cindy kopfschüttelnd und wurde sich gleichzeitig bewusst, dass sie an diesem Vormittag schon zum zweiten Mal in die Privatsphäre ihrer Tochter eindrang.
»Sie wird stinksauer sein«, erklärte sie dem Hund im Tonfall des Kekses, während sie ein weiteres Mal die Schubladen von Julias Schreibtisch durchging. Langsam kriege ich richtig Routine, dachte Cindy, zählte drei Kartons unbenutztes Briefpapier, mindestens dreißig schwarze Stifte, etliche Papierschnipsel mit Telefonnummern ohne Namen, zwei leere Bilderrahmen, einen Chiffonschal im Leoparden-Dessin, ein Dutzend
Streichholzbriefchen und drei ungeöffnete Packungen Juicy-Fruit-Kaugummis.
Aber keine Porträtaufnahmen.
Sie öffnete den Kleiderschrank, schlug gegen die winzigen Kleider auf den Holzbügeln, ging erneut die Pullover durch, die sich achtlos zusammengelegt auf den eingebauten Holzregalen stapelten, und richtete die auf dem Boden des Schrankes aufgereihten Schuhe aus.
Keine Porträts.
Sie durchwühlte die Nachttischschubladen ihrer Tochter und unterdrückte ein Schaudern, als sie auf Julias Sammlung von sexy Push-up-BHs und Strings stieß. Hatte sie keine normale Unterwäsche, fragte Cindy sich und erinnerte sich an ihre eigene Jugend. Als sie Tom geheiratet hatte, hatte sie nicht einmal einen BH besessen. Ihre Schwester Leigh, die etliche Körbchengrößen mehr hatte, hatte sie immer wegen ihres schmächtigen Vorbaus gehänselt. »Meine Brüste sind vielleicht klein«, hatte Cindy erwidert, »aber sie sind perfekt.«
Jetzt sind sie nur noch klein, dachte sie lakonisch, schob die letzte Nachttischschublade wieder zu und sah aus dem Fenster nach draußen, wo gerade ein Streifenwagen vorfuhr.
Die Polizei war zwanzig Minuten nach dem Anruf von Seans Mitbewohner in dessen Wohnung aufgekreuzt. Sie hatten sich Pauls Schilderung der Situation interessiert angehört, der ihnen erklärt hatte, dass er Cindy und Neil wiederholt aufgefordert hatte, die Wohnung zu verlassen, diese sich jedoch geweigert hätten. Cindy erklärte im Gegenzug geduldig,
Weitere Kostenlose Bücher