Bevor der Abend kommt
Tochter.«
»Um unsere Tochter, die vermisst wird«, erinnerte er sie, als wüsste sie das nicht.
Plötzlich wich alle Luft aus Cindys Lungen. »Du glaubst nicht, dass ihr etwas passiert ist, oder?«
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete er ruhig. »Ich glaube, sie hat einfach beschlossen, für ein paar Tage zu verschwinden.«
»Ohne jemandem Bescheid zu sagen?«
Tom zuckte die Achseln. »Es wäre nicht das erste Mal.«
»Sie hat so was schon mal getan?«
»Einmal«, gab er zu. »Sie war wütend wegen meiner geplanten Heirat, ist abgehauen, ein paar Tage später zurückgekommen, hat sich entschuldigt und gesagt, sie hätte nur ein wenig Zeit gebraucht, um den Kopf klar zu kriegen.«
»Und das hast du mir nicht erzählt?«
»Ich wollte dich nicht unnötig beunruhigen.« Er berührte ihren Arm. »Ich kenne unsere Tochter. Sie macht gern ein bisschen Wirbel. Wie ihre Mutter«, fügte er lächelnd hinzu.
Cindy blickte zum Fenster. »Du bist so ein verlogener Scheißkerl«, sagte sie.
»Mag sein«, räumte er ein. »Aber ich denke trotzdem, dass
wir bis Dienstag warten sollten, bevor wir die Truppen in Marsch setzen, sonst könnte es schrecklich peinlich für uns werden, wenn Julia hier einfach plötzlich reinspaziert kommt.«
»Ob irgendwas peinlich ist, ist mir scheißegal.«
»Also wirklich, Cindy, deine Wortwahl …«
»Leck mich doch am Arsch«, erklärte Cindy ihrem Ex-Mann und sah, wie er das Gesicht verzog.
»Nun, in gewisser Weise ist es wohl tröstlich, dass sich manche Dinge nie ändern.« Er schüttelte denn Kopf. »Pass auf. Dein Steuerberater hat vorgeschlagen, dass ich Michael Kinsolving anrufe, um zu fragen, ob Julia zu dem Casting erschienen ist. Wer weiß? Vielleicht hat sie ihm gegenüber irgendwelche Pläne für das Wochenende erwähnt?«
»Hältst du das für möglich?«
»Alles ist möglich. Komm, die Polizei wartet.« Sie waren schon halb die Treppe hinunter, als Cindy auffiel, dass Tom ihr die Fotos von Julia nicht zurückgegeben hatte. Sie wollte ihn gerade darum bitten, als am Fuße der Treppe einer der Polizisten auftauchte und erwartungsvoll zu ihnen hochsah.
Cindy beobachtete, wie ihr früherer Mann die provokanten Fotos mit einem Lächeln in die Tasche seiner Leinenhose schob.
10
»Vielleicht ist sie mit irgendwem durchgebrannt«, meinte der Keks zu dem zweiten Beamten, als Cindy und ihr Ex-Mann mit Detective Andy Bartolli ins Wohnzimmer zurückkamen. Detective Bartolli war der ältere und untersetztere der beiden; sein Partner Detective Tyrone Gill war gut zehn Jahre jünger und ein gutes Stück größer. Beide hatten Nacken wie Baumstämme.
»Was hast du gesagt?« Cindy spürte, wie Tom ihren Arm fasste, als wollte er sie zurückhalten, sich auf seine Frau zu stürzen.
Der Keks warf das Haar von einer Schulter auf die andere. »Vielleicht ist sie mit irgendwem durchgebrannt«, wiederholte sie, als glaubte sie wirklich, dass Cindy sie beim ersten Mal nicht verstanden haben könnte.
Cindy warf einen verstohlenen Seitenblick zu den beiden Detectives und spürte, dass deren Interesse bereits zu erlahmen begann.
Nichts Dringendes hier, sagten die Blicke, die sie wechselten.
»Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass sie mit irgendwem durchgebrannt sein könnte?«, fragte Detective Bartolli.
»Julia würde nie durchbrennen«, ging Cindy dazwischen.
»Oh bitte«, sagte der Keks. »Wie oft musste ich mir diese blöde Geschichte anhören, wie du mit Tom zu den Niagara-Fällen durchgebrannt bist, ohne irgendwem Bescheid zu sagen? Sie fand es so romantisch.«
Wirklich? Cindy kämpfte gegen die Tränen an. Ihr gegenüber hatte Julia nie etwas in der Richtung erwähnt.
Die Polizisten warteten, während Tom Michael Kinsolving anrief, dessen Assistent ihm mitteilte, dass der berühmte Regisseur die Stadt bis zum kommenden Dienstag verlassen habe und nicht zu erreichen sei. Er konnte jedoch bestätigen, dass Julia in der Tat pünktlich um elf Uhr zu ihrem fünfzehnminütigen Vorsprechtermin erschienen war.
Nachdem sie ziemlich direkt nach Julias Geisteszustand gefragt hatten – War sie in letzter Zeit depressiv? Wie sehr hat sie die Trennung von ihrem Freund mitgenommen? -, brachen die Polizisten mit mehreren Porträts von ihr auf und versprachen anzurufen, sobald sie mit Sean Banack gesprochen hatten. Ansonsten wollten sie mit Toms Zustimmung und trotz Cindys Einwänden das lange Wochenende abwarten, bevor sie eine offizielle Suche einleiteten.
»Und was
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