Bevor der Abend kommt
Lächeln ihrer Tochter zusammenzusetzen. Sean hatte es offensichtlich in einem Wutanfall aus dem Bilderrahmen gerissen. War es denkbar, dass er mit ähnlicher Wut über ihre Tochter hergefallen war?
»Vielleicht solltest du das lieber lassen«, riet Neil und nahm ihr das Foto aus den zitternden Händen.
»Was ist noch hier drin?«, fragte Cindy, ohne Neils Warnung zu beachten, und kippte den Papierkorb aus. Papierfetzen, benutzte Taschentücher, Abfälle vom Bleistiftspitzen und das angebräunte Kerngehäuse eines Apfels regneten auf den Boden. »Müll, Müll, Müll«, murmelte sie und ließ den weißen Plastikeimer fallen. Sie begann, die Schreibtischschubladen aufzureißen und darin herumzukramen. In der ersten entdeckte sie nichts Interessantes und wollte auch die zweite schon wieder schließen, als sie ganz hinten einen Briefumschlag ertastete. Sie zog ihn heraus, öffnete ihn und stöhnte unwillkürlich leise auf.
»Was ist das?«
Cindy machte den Mund auf, doch kein Laut drang heraus, während sie weiter den Stapel kleiner Farbfotos durchblätterte,
die Julia in diversen Stadien der Entkleidung zeigten: Julia in einem durchsichtigen lavendelfarbenen BH und einem String; Julia, die nur das Unteilteil eines schwarzen String-Bikinis trug und mit den Händen kokett ihre offensichtlich nackten Brüste bedeckte; Julia im Profil, hinter ihrem Ellenbogen zeichnete sich die Rundung einer nackten Brust ab, während sich ihr nackter Po aus dem Bildausschnitt wölbte; Julia, verführerisch in ein Laken gewickelt; Julia in Stöckelschuhen und nur mit einem aufgeknöpften Männerhemd und einer Krawatte bekleidet.
»Warum hat sie so etwas gemacht?«, fragte Cindy sich laut und zeigte Neil die Bilder, bevor sie sie in die Tasche ihrer Khakihose steckte. Was war nur mit Julia los? Hatte sie komplett den Verstand verloren?
Cindy durchsuchte den Schreibtisch weiter und wollte die untere Schublade gerade zuschieben, als ihr Blick auf ein eng betipptes Blatt Papier fiel.
Das tote Mädchen , las sie.
Von Sean Banack .
Cindy zog das Blatt aus der Schublade und nahm es mit zum Bett, wo sie sich setzte, während ihre Lippen sich stumm mitbewegten, als sie die Zeilen überflog.
Das tote Mädchen
Von Sean Banack
KAPITEL EINS
Obwohl ihre Hände und Füße hinter ihrem nackten Körper gefesselt sind und sie weiß, dass er sie ohne jeden Zweifel umbringen wird, starrt sie ihn trotzig an. Er hätte auch ihre Augen verkleben sollen, genau wie den Mund, denkt er; dann müsste er diesen verächtlichen Blick, den er so gut kennt, nicht ertragen. Doch er will, dass sie ihn sieht. Er will, dass sie weiß, was kommt, dass sie die Messer
und anderen mittelalterlichen Folterwerkzeuge sieht, die auf dem Boden ausgebreitet sind, damit sie begreift, was für eine Hölle er für sie vorbereitet hat. Er nimmt das kleinste, aber schärfste Messer, wiegt es behutsam zwischen den Fingern seiner, wie sie sagt, hoffnungslos untauglichen Hände. Tuntenfinger hatte sie sie genannt.
Er zieht eine feine Linie über das gespannte Fleisch ihres Oberarms. Ihre Augen werden weit, als sie die schmale, rote Spur auf ihrer weißen Haut sieht. Langsam nimmt er ein zweites Messer, holt aus und stößt es in elegantem Bogen in ihre Seite, wobei er peinlich darauf achtet, keine lebenswichtigen Organe zu treffen, weil er sie nicht mit dem ersten Stoß töten will, denn wo bliebe da das Vergnügen? So schnell vorbei, bevor er Gelegenheit hatte, es zu genießen, oder sie ausreichend Zeit, ihre Sünden umfassend zu büßen. Deshalb muss sie leiden. Genau wie er so lange gelitten hat.
Was machst du? Lass mich los, hatte sie geschrien, als er neben ihr gehalten, sie überwältigt, gefesselt und in den Kofferraum seines Wagens gestoßen hatte. Sie, das verwöhnte Gör, das jeden, der nördlich des Highway 401 lebte, für geborenen Adel hielt, würde in einem verlassenen Schuppen gleich südlich der King Sideroad am absoluten Arsch der Welt verbluten. Geschieht dir recht, du Flittchen, sagt er und schlitzt ihre Beine auf, bevor er sie auf den Rücken wirft und ihr das größte seiner Messer zwischen die Schenkel stößt.
Sie reißt entsetzt ihre grünen Augen auf, als das Messer tiefer in sie eindringt. Jetzt lachst du nicht mehr, du Schlampe? Mit der anderen Hand nimmt er ein weiteres Messer und metzelt ihre Brüste. Ihr Blut ist überall: an ihr, an ihm, auf dem Boden, an seinen Kleidern, in seinen Augen, unter seinen Fingernägeln. Den Nägeln seiner
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