Bevor der Abend kommt
dass ihre Tochter sich vor kurzem von Pauls Mitbewohner getrennt hatte und jetzt vermisst wurde. Deshalb wären sie und Neil vorbeigekommen, um mit Sean zu reden, hätten jedoch nur ein zerrissenes Foto von Julia im Papierkorb gefunden. Und diese beunruhigend bösartige, kleine Geschichte, fügte sie mit brechender Stimme und erschöpftem Langmut hinzu und drückte den beiden Polizeibeamten das belastende Papier in die Hand, während
sie vorschlug, dass sie die Gegend südlich der King Sideroad unverzüglich nach verlassenen Schuppen absuchten. »Hey, hey, immer schön langsam«, hatten die beiden sie zu beruhigen versucht.
»Immer schön langsam«, wiederholte Cindy jetzt, sank auf die Knie und spähte unter das Bett ihrer Tochter, wobei sie die Schnauze des Hundes kalt an ihrer Wange spürte. Sie entdeckte ein altes Keyboard und eine neue akustische Gitarre, beide mit Staub bedeckt, was nicht weiter überraschend war, da Cindy sich auch nicht erinnern konnte, wann sie Julia zum letzten Mal hatte spielen hören. Sie wollte gerade aufgeben, nach unten gehen und der Polizei erklären, dass Julia ihre Porträtfotos mit zu ihrem Casting genommen haben musste, als sie den großen braunen Umschlag entdeckte, der unter dem Gitarrenhals hervorlugte. »Ein absolut logischer Aufbewahrungsort«, sagte Cindy, streckte den Arm aus, zog den Umschlag hervor und wollte ihn gerade öffnen, als es klingelte. »Ich komme sofort«, rief sie über das Bellen des Hundes hinweg.
»Guten Tag, meine Herren. Bitte, kommen Sie herein«, hörte sie Tom sagen, als wäre er hier noch immer zu Hause.
Cindy zog eine Hand voll Fotos aus dem Umschlag und betrachte das schöne Gesicht ihrer Tochter mit einem traurigen Lächeln. Sie sieht so strahlend aus, dachte sie und bewunderte die Entschlossenheit im Blick ihrer Tochter. Als ob sie sich durch nichts aufhalten lassen würde. »Julia ist wirklich fotogen«, hatte Tom einmal bemerkt, und sosehr Cindy es hasste, ihrem Ex-Mann in irgendetwas beizupflichten, musste sie ihm in diesem Punkt Recht geben. Julia sah ihre Mutter aus dem glänzenden Schwarzweißfoto an; den Kopf provokant zur Seite geneigt, fiel ihr das glatte blonde Haar über ihre rechte Schulter, und auf ihren beneidenswert vollen Lippen lag nur die Andeutung eines Lächelns.
Und doch wusste Cindy, dass hinter der Fassade äußerer
Stärke ein Bündel von Unsicherheiten lauerte, die sich wie Schlangen in einem Stoffbeutel wanden. Im Gegensatz zu Heather, die Selbstbewusstsein, aber dafür kein Talent zur Selbstinszenierung hatte, beherrschte Julia die Pose, ohne über das Selbstvertrauen zu verfügen – ein interessanter Widerspruch. Sie dachte an die Bilder in ihrer Tasche. Die kann ich der Polizei wohl schlecht zeigen, dachte sie, zog sie für einen Moment aus der Tasche und blätterte sie durch.
»Cindy?« Unvermittelt stand Tom in der Tür, als hätte er die ganze Zeit dort gelauert und den richtigen Moment abgepasst, um in Erscheinung zu treten. »Warum brauchst du so lange? Die Polizei wartet.«
Cindy sprang auf, blieb jedoch wie angewurzelt stehen.
»Was ist los?«, fragte Tom. »Was machst du denn da?« Er trat neben sie und nahm ihr die Fotos aus der Hand.
»Die habe ich in Seans Wohnung gefunden.«
»Sie sieht ziemlich gut aus«, bemerkte Tom nonchalant.
Cindy schüttelte entsetzt den Kopf.
»Du bist wirklich unglaublich.«
»Nun, komm schon, Cindy. Entspann dich. Man sieht ja gar nichts.«
»Man sieht, dass sie nackt ist.«
»Und man sieht auch, dass sie großen Spaß dabei hat.«
»Und deshalb ist es in Ordnung?«
»Deshalb geht es uns nichts an.«
»Sie ist deine Tochter!«
»Sie ist volljährig, und es ist erkennbar mit ihrer Einwilligung geschehen.«
»Meinst du, ich sollte diese Fotos der Polizei zeigen?«
»Nur wenn du die Angelegenheit vernebeln willst«, warnte er sie.
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass sich Polizisten leicht ablenken lassen. Ein Blick auf diese Fotos, und sie werden deine Sorgen nicht
mehr allzu ernst nehmen. Ich dachte, es ginge darum, unsere Tochter zu finden.«
»Plötzlich ist das Ganze also nicht mehr nur eine Überreaktion meinerseits?«
»Natürlich ist es eine Überreaktion. Das ist Teil deines Charmes.«
»Sei nicht so herablassend.«
»Und du bestraf mich nicht für etwas, das vor sieben Jahren passiert ist.«
Cindy riss ungläubig die Augen auf. »Du glaubst, dass es darum geht? Um unsere Scheidung?«
»Etwa nicht?«
»Es geht um unsere
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