Bevor der Abend kommt
unscheinbare Studio in einer nicht besonders schicken Gegend in den letzten Jahren zu dem Studio geworden, in dem die in der Stadt weilenden Prominenten sich mit Vorliebe entspannten und trainierten, was für Julia natürlich der Hauptgrund war, es ihrerseits zu besuchen, wie Cindy wusste. Hin und wieder hatte Julia ihre Mutter mit Geschichten unterhalten, wie sie zwischen Gwyneth Paltrow, Elisabeth Shue und ihresgleichen Dehnübungen gemacht hatte. Eines Tages, hatte sie versprochen, würden andere Töchter ihren Müttern erzählen, dass sie neben Julia Carver trainiert hatten.
Vor dem Gebäude gab es keine Parkplätze, sodass Cindy fast eine Viertelstunde durch das frustrierende Einbahnstraßengewirr kurvte, bis sie wieder auf der Hauptstraße landete. Als sie dann sah, dass auf der anderen Seite der Bloor Street ein Wagen aus einer Parklücke fuhr, vollführte Cindy ein ebenso waghalsiges wie verbotenes Wendemanöver, das den Fahrer des Wagens hinter ihr zu einer Vollbremsung nötigte, während der Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeugs ihr den gestreckten Mittelfinger zeigte. Es war ein Mann mittleren Alters, der neben Cindys braunem Camry hielt, als sie rückwärts in die eben frei gewordene Parklücke setzte, und so lange auf die Hupe drückte, bis sie den Motor abgeschaltet hatte. Cindy blieb sitzen und starrte durch die Windschutzscheibe, ohne den Mann
neben sich anzusehen, weil sie wusste, dass er ihr nicht genug Platz gelassen hatte, die Fahrertür zu öffnen, sodass sie durch die Beifahrertür hätte aussteigen müssen. Sie schaute auf ihre Uhr und spürte, wie der Mann mit ätzendem Blick Löcher in ihr Seitenfenster brannte.
»Warum so eilig, Lady?«, hörte sie ihn durch zwei Schichten Glas schreien. »Haben Sie ein Problem mit der Blase?«
Oh je, dachte sie und wusste nicht recht, was sie tun sollte. Es gab so viele wütende Menschen auf der Welt. So viele Verrückte. Schaudernd fragte sie sich, was passiert sein könnte, wenn Julia einem Mann wie diesem begegnet wäre. Und weiter angenommen, sie hätte das Falsche gesagt oder getan und irgendjemanden auf eine unschuldige und unvorhersehbare Art beleidigt.
»Sie hätten uns beide beinahe umgebracht«, tobte der Mann weiter.
Cindy sah, dass er erregt mit den Armen um seinen Kopf fuchtelte, als hätte er einen Bienenschwarm aufgescheucht. Sie stellte sich ein Messer in diesen Händen vor und hörte aus der Ferne Julias Schreie. Tränen schossen ihr in die Augen. Die Autos, die sich hinter dem Wagen des Mannes zu stauen begannen, hupten und drängten ihn weiterzufahren, doch er rührte sich nach wie vor nicht von der Stelle. Wollte er den ganzen Tag dort stehen bleiben?
Cindy wischte sich eilig eine Träne von der Wange und sah erneut auf die Uhr. Es wurde langsam spät. Mittlerweile war der Yoga-Kurs schon halb zu Ende. Vielleicht hatte Lindsey die Hoffnung bereits aufgegeben, dass ihre Freundin noch kommen würde, und war nach Hause gegangen. Sie konnte doch nicht den ganzen Vormittag hier sitzen und darauf warten, dass dieser Verrückte sich bewegte. »Es tut mir Leid«, sagte sie aufrichtig und wandte sich dem Mann zu, dessen Gesicht vor Wut knallrot und verzerrt war wie von ungeschickten Fingern in Ton modelliert. »Ich wollte Sie nicht schneiden.«
»Man sollte Sie erschießen, Lady«, kam prompt die Antwort des Mannes. Dann fuhr er weiter, nicht ohne den Arm mit gestrecktem Mittelfinger als abschließenden Kommentar aus dem Fenster zu recken.
Cindy stieß die Tür auf, hörte eine weitere Hupe und spürte die warmen Auspuffdämpfe eines roten Porsche an ihren Beinen, der um ein Haar über ihre Zehen gefahren wäre. Ein weiterer Mittelfinger wurde in ihre Richtung geschwenkt. Sie kämpfte gegen die erneut aufsteigenden Tränen an und wartete auf eine Lücke im Verkehr. Ein Bettler vor dem Laden nebenan schüttelte fassungslos den Kopf, als sie über die Straße rannte, wandte sich jedoch, als sie auf ihn zukam, wie angewidert von ihrer Achtlosigkeit ab. »Na, gut«, murmelte sie und ließ die Münzen in ihrer Hand wieder in die Tasche gleiten. »Dann behalte ich mein Geld eben.«
Cindy zog die Tür des Yoga-Studios auf, ging zu dem uralten Aufzug, drückte einmal und dann immer wieder auf den Knopf, bevor sie die alten Kabel über ihrem Kopf ächzend den zitternden Abstieg des Fahrstuhls ankündigen hörte. Sie zwängte sich zwischen den schweren Metalltüren in die Kabine, bevor sie sich ganz geöffnet hatten, und erkannte zu spät, dass
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