Bevor der Abend kommt
Julia?«
»Darüber muss ich ja mit Ihnen reden.«
»Lassen Sie ihre Schultern ganz locker«, betonte der Lehrer und klang zum ersten Mal leicht gereizt.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Lindsey noch einmal und richtete sich wieder auf.
»Bitte, meine Damen. Können wir die Unterhaltung bis zum Ende der Kursstunde verschieben?«
»Verzeihung«, sagte Lindsey.
»Können wir später miteinander reden?«, flüsterte Cindy. »Es dauert bestimmt nicht lange.«
»Ja, gut.«
»Danke.«
»Meine Damen, bitte.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Cindy.
»Sehr gut. Und jetzt legen Sie sich langsam auf den Rücken, und konzentrieren Sie Ihre gesamte Energie auf Ihre Atmung.«
Cindy legte sich hin und spürte, wie ihre Rückenmuskeln in die Gummimatte schmolzen. Sie atmete tief ein, die Luft strömte durch ihre Nasenlöcher in ihre Lunge und dehnte sich langsam bis in ihren Unterleib aus. Wie in der Zeit, als ich mit Julia schwanger war, dachte sie und erinnerte sich daran, wie stolz sie auf das neue Leben in ihrem Bauch gewesen war.
»Sehr gut«, sagte Peter. »Und jetzt atmen Sie wieder aus, und lösen Sie alle Gifte und allen Stress aus Ihren Poren. Hauchen Sie all Ihre weltlichen Sorgen sanft über Ihre Lippen, und spüren Sie, wie Ihr Körper von dieser Last befreit wird.«
Trotz der morgendlichen Übelkeit und der überwältigenden Müdigkeit der ersten Monate hatte Cindy es geliebt, schwanger zu sein. Sie hatte es genossen, dass ihre Haut so glänzend und ihre Brüste so voll geworden waren. Sogar die hässliche weite Umstandskleidung hatte sie gemocht. Und die Tatsache, dass Tom so fürsorglich und aufmerksam gewesen war, so voller Begeisterung, Vater zu werden. Rückblickend war ihre Ehe wahrscheinlich nie so glücklich gewesen wie während ihrer ersten Schwangerschaft.
»Und nun atmen Sie noch einmal tief ein, öffnen Sie Ihr Herz, und spüren Sie, wie es sich mit positiver Energie erfüllt.«
Ihre zweite Schwangerschaft war eine komplett andere Geschichte gewesen. Dieses Mal hatte die morgendliche Übelkeit den ganzen Tag angedauert, und Wasserablagerungen hatten sie von Kopf bis Fuß anschwellen lassen. Die permanente Übelkeit hatte zur Folge, dass sie Julia nicht die gewohnte Zeit und Kraft widmen konnte, weshalb jene ihre Loyalität in diesen neun Monaten langsam und subtil von ihrer Mutter auf ihren Vater verlagert hatte. In dieser Zeit hatte Cindy auch zum ersten Mal entdeckt, dass Tom sie betrog.
»Wenn Ihre Gedanken abschweifen«, sagte Peter irgendwo über ihr, »lenken Sie sie zurück auf Ihre Atmung.«
Cindy hatte sich selbst die Schuld für Toms Affäre gegeben, weil ihr ständig übel und sie dauernd müde war. Und so besonders sie sich gefühlt hatte, als sie mit Julia schwanger war, so überflüssig war sie sich während der Schwangerschaft mit Heather vorgekommen, ein lästiger Störenfried im eigenen Haus. Tom hatte ihre Rolle begeistert übernommen, stundenlang mit Julia Barbie gespielt, ihr eine Geschichte nach der anderen vorgelesen und war am Wochenende nachmittags mit ihr in den Park gegangen. Nachdem er Julia abends ins Bett gebracht hatte, hatte er sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen oder war noch mal ins Büro gegangen, um liegen gebliebene Arbeit zu erledigen. Oder er war einfach so noch mal weggefahren, um sich zu entspannen, wie er sagte.
»Entspannen Sie sich«, fuhr die Stimme fort und schwebte durch den Raum. »Entspannen Sie sich. Lassen Sie los.«
Nach Heathers Geburt hatte sich dieses Muster fortgesetzt. Seltsamerweise machte die Tatsache, dass Heather ein ebenso pflegeleichter Säugling war, wie Julia schwierig gewesen war, alles noch schlimmer. Julia gab Cindy die Schuld dafür, den unerwünschten Eindringling in ihr Leben gebracht zu haben, wendete sich zunehmend ihrem Vater zu und schloss ihre Mutter beinahe vollkommen aus. »Sie hat mir Heather nie ganz verziehen«, erklärte Cindy ihrer Mutter, die ihr versicherte, dass es mit ihr und Leigh einmal genauso gewesen war.
»Loslassen«, sagte Peter, legte seine Hände sanft auf Cindys und versuchte, ihre Finger zu lockern. »Loslassen. Loslassen.«
»Tut mir Leid«, flüsterte Cindy, als sie merkte, wie verkrampft sie die Fäuste neben dem Körper ballte.
»Spüren Sie, wie Ihr Atem in Ihre Fingerspitzen fließt. Erlauben Sie Ihren Händen, sich zu entspannen.«
Cindy spürte, wie sich ihre Fäuste unter Peters fachmännischer und sanfter Berührung langsam entkrampften. Tom hatte sie mit der gleichen
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