Bevor der Abend kommt
sie nicht wusste, auf welcher Etage das Studio war. »Was ist los mit dir? Wie kann man nur so blöd sein?«, fragte sie sich laut und trat wieder aus der Kabine, als eine nachlässig gekleidete junge Frau hereintrat, die auf einem riesigen Kaugummi kaute. »Verzeihung, wissen Sie, auf welcher Etage das Yoga-Studio ist?«, fragte sie das Mädchen, das sie jedoch nur mit leerem Blick anstarrte. »Könnten Sie den Fahrstuhl kurz aufhalten, bitte?«
Cindy rannte zur der Anschlagtafel an der Wand links neben dem Eingang des Gebäudes, überflog die Liste, merkte sich das richtige Stockwerk und rannte zu dem Fahrstuhl zurück, dessen Türen gerade zugingen. »Könnten Sie bitte die Tür …?«, setzte sie an, doch das Mädchen kaute unbeteiligt
auf seinem Kaugummi herum und starrte durch Cindy hindurch, als wäre sie gar nicht da.
»Das glaub ich nicht! Hätte es Sie umgebracht, zwei verdammte Sekunden zu warten?« Cindys wütende Stimme hallte in dem Schacht nach, in dem die Kabine nun aufstieg, während sie mehrfach auf den Knopf hämmerte. »Oh mein Gott, ich drehe langsam durch.« Sie wandte sich zum Treppenhaus und rannte, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Es gab so viele wütende Menschen auf der Welt, dachte sie erneut. So viele Verrückte. »Und ich bin auf jeden Fall eine von ihnen«, gestand sie sich ein, als sie mit zitternden Oberschenkeln und weichen Knien im dritten Stock ankam. Keuchend beugte sie sich so tief vor, dass ihre Fingerspitzen den Betonboden streiften.
Was war nur mit ihr los? Wohin rannte sie so kopflos? Und was wollte sie tun, wenn sie dort war?
Cindy strich sich eine feuchte Strähne aus dem Gesicht, straffte ihre Schultern und wartete, bis ihr Atem sich wieder beruhigt hatte, bevor sie den Flur betrat, an den Büros mehrerer kleinerer Unternehmen vorbeiging und schließlich vor der Tür des Yoga-Studios stand. Sie presste die Stirn dagegen und lauschte der Stille.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Cindy taumelte in den Raum.
»Tut mir schrecklich Leid. Haben Sie sich wehgetan?« Eine Frau mittleren Alters in einem wenig vorteilhaften, schwarzen Trikot streckte die Arme aus, um Cindys Fall zu bremsen. »Ich wusste ja nicht, dass draußen jemand steht.« Graue Haare, die wild in alle Richtungen abstanden, rahmten das besorgte Gesicht der Frau, als wäre sie vom Blitz getroffen worden.
Und alles meinetwegen, dachte Cindy. »Entschuldigung«, sagte sie laut. »Es war meine Schuld.«
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine Stimme jenseits der grauen Mähne.
Cindys Blick wanderte von einem Ende des langen, rechteckigen Raums zum anderen. In einer Ecke drängten sich ein altes braunes Sofa und ein paar schäbige beigefarbene Stühle um einen niedrigen Couchtisch, in der anderen stand ein hoher Glasschrank mit Büchern und anderen Verkaufsangeboten zum Thema Yoga, und in der Mitte befand sich der unaufgeräumte Empfangstresen. An einer Wand hingen diverse weiße, graue und schwarze T-Shirts mit dem Logo des Yoga-Studios wie Kunstwerke, und der Duft von Orangen, der von diversen Schalen mit geviertelten Apfelsinen aufstieg, erfüllte die Luft wie ein Parfüm. Zwei Frauen saßen auf dem Sofa, tranken Wasser aus der Flasche und aßen Orangen, eine weitere Frau ordnete einen Haufen Yoga-Matten, die neben der Tür zu den Innenräumen gestapelt waren.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau am Empfang noch einmal. Sie war blass und etwa so alt wie Julia, mit feinem, rotblondem Haar und überdimensionierten Sommersprossen, die sich über ihre Nase breiteten wie verschmierte Erdnussbutter.
»Ich suche Lindsey.«
»Lindsey …?«
»Lindsey«, bestätigte Cindy, als ob die bloße Wiederholung des Namens ausreichen würde. »Ich sollte sie hier um zehn Uhr treffen. Vielleicht ist sie schon in ihrem Kurs. Ich bin sehr spät dran«, fügte Cindy unnötigerweise hinzu.
Die Frau am Empfang nickte. »Zurzeit laufen diverse Kurse. Wissen Sie, in welchem sie ist?«
»Nein, aber so viele Lindseys kann es doch nicht geben.«
»Also, wir haben tatsächlich mehrere Lindseys, von denen, soweit ich weiß, heute Morgen auch zwei hier sind.« Das Mädchen warf einen Blick auf die vor ihr liegende Liste. »Ja, Lindsey Josephson und Lindsey Krauss.«
Lindsey Josephson und Lindsey Krauss, wiederholte Cindy stumm. Keiner der Namen kam ihr auch nur im Geringsten bekannt
vor. »Sie war mit meiner Tochter Julia verabredet. Julia Carver.«
Ein Lächeln breitete sich über das
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