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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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Ryan Sellick zwinkerte ihr aus einer dunklen Nische ihrer Fantasie zu. »Was genau hat sie Ihnen über ihn erzählt?«
    »Nichts. Ehrlich. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Ich muss jetzt wirklich gehen. Ich bin sicher, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
    Lindsey flüchtete, während eine Frau aus ihrem Kurs auf Cindy zutrat. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«, fragte sie.
    In Cindys Augen standen Tränen, die das Bild der Frau verschwimmen ließen, bis ihre Gesichtszüge sich übereinander schoben wie in einem kubistischen Gemälde.

    »Soll ich Sie nach Hause bringen?«, bot eine andere Frau an.
    »Danke, ich bin mit meinem eigenen Wagen hier«, erwiderte Cindy tonlos.
    »Können wir irgendwas für Sie tun?«
    Cindy nickte. »Finden Sie meine Tochter.«

13
     
     
    Nach Verlassen des Yoga-Studios folgte Cindy in der festen Absicht, direkt nach Hause zu fahren, der Spadina Road bis zur Dupont Street. Doch anstatt rechts in die Poplar Plains Road abzubiegen, hielt sie sich links und fuhr nach Westen weiter bis zur Christie Street, wo sie gegenüber einem alten, durchgängig geöffneten Ladenkiosk hielt, den Motor abschaltete und, ohne den Wagen zu verlassen, zu Sean Banacks Wohnung hinüberstarrte. Was mache ich hier, fragte sie sich und presste ihre Stirn auf das lederbezogene Lenkrad. Hatten die Polizisten ihr nicht erklärt, dass sie alles Weitere ihnen überlassen sollte?
    Aber die Polizei wollte bis Dienstag warten.
    Und am Dienstag war es vielleicht schon zu spät.
    Cindy hob den Kopf und blickte auf die Straße. Vor dem Laden stand Sean Banack und starrte zu ihr herüber.
    Ohne zu überlegen, riss Cindy die Wagentür auf und rannte über die Straße. »Sean, Sean, warten Sie«, rief sie ihm über den Verkehrslärm hinweg zu. »Ich muss mit Ihnen reden.«
    Sean Banack wich mehrere Schritte zurück, als Cindy näher kam, und hob seine kräftigen Arme, als wollte er sie warnen, noch näher zu kommen. Er war mittelgroß, von durchschnittlicher Statur und sah auf eine nachlässige Weise gut aus. Sein blondes Haar, das er früher lang getragen hatte, war kurz geschoren, er trug sehr enge Jeans und sah sie mit seinen hellbraunen Augen herausfordernd an. »Ich glaube nicht, dass wir etwas miteinander zu bereden haben, Mrs. Carver.«
    »Ich schon.«

    »Und … was ich will, ist egal?« Sean warf die Hände in die Luft, als wollte er sich lieber gleich ergeben. »Jetzt sehe ich, woher Julia das hat.«
    »Woher sie was hat?«
    »Ihre – wie soll ich es höflich ausdrücken – ihre unbeirrbare Entschlossenheit.«
    Cindy lächelte bei dem Gedanken, dass ihre Tochter ihr in irgendeiner Weise ähnlich war. »Wo ist Julia?«
    »Nicht hier.«
    »Wo dann?«
    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
    »Ich glaube Ihnen nicht.«
    Sean Banack machte einen weiteren Schritt zurück, bis er buchstäblich mit dem Rücken zur roten Backsteinwand des Ladens stand. »Was geht hier ab, Mrs. Carver?«
    »Meine Tochter wird vermisst, Sean. Sie ist seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen.«
    »Und das gibt Ihnen das Recht, in meiner Wohnung aufzukreuzen und meinen Mitbewohner zu belästigen? Meine Sachen zu durchwühlen und der Polizei zu erzählen, ich hätte etwas mit Julias Verschwinden zu tun?«
    »Wollen Sie behaupten, dass das nicht stimmt?«
    »Ja, natürlich nicht.«
    »Ich habe Ihre Geschichte gelesen.«
    Sean blickte auf den Bürgersteig, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und kratzte sich am Kopf. »Es ist bloß eine Geschichte. Ich bin Schriftsteller. Das ist mein Beruf.«
    »Es ist eine widerwärtige und brutale Geschichte.«
    »Ich habe nicht behauptet, dass ich ein guter Schriftsteller bin.« Er starrte einfältig auf seine Schuhe, als wäre ihm sein müder Witz selber peinlich. »Hören Sie, Mrs. Carver, ich verstehe wirklich, dass Sie besorgt sind, und ich kann auch nachvollziehen, warum Sie die Lektüre im Licht der Ereignisse so erschreckt hat …«

    »Im Licht welcher Ereignisse?«, unterbrach Cindy ihn. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«
    »Ich habe gar nichts mit ihr gemacht.«
    »Bitte sagen Sie mir einfach, wo sie ist.«
    »Ich weiß nicht, wo sie ist.«
    »Sie haben geschrieben, dass sie sie in einem verlassenen Schuppen gefesselt haben …«
    »Das war eine gottverdammte Geschichte! Eine Geschichte, die rein gar nichts mit Julia zu tun hat. Um Himmels willen, Mrs. Carver, ich habe Ihre Tochter geliebt. Ich könnte ihr nie etwas antun.«
    In diesem Moment ging

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