Bevor der Abend kommt
Schuldig, weil sie sich ihren beiden besten Freundinnen
bisher noch nicht anvertraut hatte, und erleichtert darüber, dass ihre Schwester es wusste.
»Und deine Nachbarin. Faith? Ist das ihr Name? Es war schwer zu verstehen, was sie sagte, weil im Hintergrund die ganze Zeit das Baby geschrien hat.«
Wieder trat ihr Ryans Bild vor Augen, und sie sah seine auf einen Zettel gekritzelte Telefonnummer, die sie in Julias Zimmer gefunden hatte. Was wollte Julia mit Ryans Büronummer? War es möglich, dass er der geheimnisvolle Mann war, mit dem sich ihre Tochter eingelassen hatte? Oder war es einer seiner Kollegen bei Granger, McAllister? »Was wollte sie?«
»Sie wollte bloß sagen, dass sie sich hundert Prozent besser fühlt und mit ihrem Mann einen Ausflug zum Lake Simcoe macht. Sie ruft dich morgen an und möchte, dass du dir keine Sorgen machst.«
Ryan musste also bis morgen warten.
»Oh, und Heather hat angerufen, um zu hören, ob Julia zurück ist.«
Cindy blickte in den Flur. »Was ist mit Duncan? Ist er hier?«
»Ich hab ihn nicht gesehen. Möchtest du Suppe?«
»Nein.«
»Du solltest etwas essen«, sagte Leigh. »Es ist wichtig, dass du bei Kräften bleibst. Mom hat gesagt, du hättest kaum geschlafen.«
»Sie hat schlecht geträumt«, erklärte ihre Mutter. »Sie hat gedacht, sie hätte vergessen, ihre Tabletten zu nehmen.«
»Was für Tabletten?«
»Es war bloß ein Alptraum«, sagte Cindy.
»Ich wünschte, ich hätte bloß Alpträume.« Leigh schenkte zwei Suppenschüsseln voll. »Ich hingegen leide unter etwas, das sich benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel nennt.«
»Was ist denn das?«, fragte ihre Mutter.
»Offenbar haben sich die Kalziumkarbonatkristalle in meinem Innenohr gelöst und senden jetzt einen Impuls ans Gehirn,
dass ich mich bewege, obwohl ich still liege. Sobald ich also auf dem Rücken liege oder mich auf die Seite drehe – und zwar nur auf die rechte Seite, wohlgemerkt, gut, dass ich auf der linken schlafe -, dreht sich das Zimmer um mich herum, als wäre ich auf einem dieser verrückten Karussells beim Exhibition Center. Der Arzt hat gesagt, es wäre benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel.« Sie stellte die Suppenschüsseln auf den Tisch. »Lasst es nicht kalt werden.«
»Isst du keine?«
»Igitt, ich hasse Dosensuppen. Wenn ich morgen Zeit habe, koche ich dir eine richtige Suppe.«
Morgen, dachte Cindy und hoffte verzweifelt, dass morgen um diese Zeit Julia dort stehen würde, wo ihre Schwester jetzt stand.
Morgen, dachte sie und wiederholte das Wort stumm wie ein Gebet.
Morgen.
Als Cindy am nächsten Morgen aufwachte, bereitete Leigh in der Küche bereits das Frühstück vor.
»Eier mit Speck«, schwärmte Heather und lächelte ihre Mutter von ihrem Stuhl am Küchentisch an. Sie trug einen alten rosa Pyjama, den Cindy seit Jahren nicht gesehen hatte. Elvis saß erwartungsvoll neben ihr und hoffte offensichtlich, ein paar Brocken abzubekommen.
»Du bist ja früh auf.« Cindy küsste ihre Tochter auf die Wange und tätschelte Elvis’ Kopf.
»Ich habe den Speck gerochen.«
»Du musstest dir doch nicht solche Umstände machen«, sagte Cindy, als ihre Schwester ihr einen Teller mit knusprigen Speckscheiben und zwei perfekten Spiegeleiern in die Hand drückte.
Leigh steckte zwei Scheiben Rosinenbrot in den Toaster. »Wie hast du geschlafen?«
»Ganz gut«, log Cindy, setzte sich und machte sich über ihre Eier her. »Und du?«
»Nicht so besonders. Die Matratze hier unten bringt einen um. Aber was will man von einem Schlafsofa schon erwarten? Schläft Mom noch?«
Cindy nickte. »Was ist mit Duncan?«, fragte sie Heather.
Zur Antwort bekam sie das mittlerweile vertraute Schulterzucken. »Weiß nicht.«
»Du weißt es nicht?«
»Er hat bei Mac geschlafen.«
»Mac?«, wiederholte Leigh und wendete den Namen auf der Zunge. »Warum kommt mir der Name bloß so …? Oh mein Gott.« Sie wandte sich an Cindy. »Gestern hat für dich noch ein Neil Mac-Soundso angerufen. Tut mir schrecklich Leid. Ich kannte den Namen nicht und konnte keinen Zettel finden, um ihn aufzuschreiben, sodass ich ihn komplett vergessen habe. Du solltest wirklich einen Block und einen Stift neben das Telefon legen. Dann würde so etwas nicht passieren.«
»Ist ja nicht so schlimm, Leigh«, sagte Cindy, während ihr Neils Gesicht vor Augen trat, verschwamm und wieder verblasste. Schlechtes Timing, dachte sie erneut und verdrängte das Bild ganz. Im Moment hatte sie schon genug zu
Weitere Kostenlose Bücher