Bevor der Abend kommt
zärtlichen Kraft berührt, dachte sie. Der beste Liebhaber, den sie je gehabt hatte, seine Liebkosungen so
Sucht erzeugend wie ein starkes Narkotikum. Während all seiner Affären hatten sie nie aufgehört, miteinander zu schlafen, und sie hatten es auch an jenem grausamen Abend getan, als er ihr erklärt hatte, dass er sie verlassen würde, und noch etliche Monate, nachdem er ausgezogen war und sie immer noch geglaubt hatte, es gäbe eine Chance, dass er zurückkommen könnte, und dann weitere Monate, während sie um eine Vereinbarung gerungen hatten, und selbst nachdem ihre Scheidung rechtsgültig war und es keine Hoffnung mehr gab. Endgültig hatte es erst an dem Nachmittag aufgehört, als Julia ihren neuen Koffer gepackt und das Haus ihrer Mutter verlassen hatte, um bei ihrem Vater zu leben.
»Genau so«, sagte Peter mit leisem Stolz und tätschelte Cindys Finger. »Sie lächeln.«
»Was ist los?«, fragte Lindsey, als Cindy ihr in den Empfangsbereich folgte. »Ist Julia krank?« Sie nahm sich ein Orangenstück aus der Schale auf dem Empfangstresen.
»Hier ist Ihr Wechselgeld«, sagte die Frau hinter dem Tresen und hielt ihr die Scheine hin.
Doch Cindy beachtete sie gar nicht, sondern sah Lindsey an, die den Saft aus ihrer Orange saugte. »Wann haben Sie zum letzten Mal mit Julia gesprochen?«
»Heute Morgen.«
»Heute Morgen?« Cindys Herz begann zu rasen.
»Ja, ich habe sie angerufen und sie gefragt, wo sie bleibt. Wir waren um halb zehn zum Kaffee verabredet.«
Cindys Mut sank wieder. »Das war ich.«
»Was?«
»Sie haben mit mir gesprochen.«
»Das verstehe ich nicht. Warum haben Sie denn …?«
»Julia wird vermisst.«
»Was?«
»Seit Donnerstag.« Cindy beobachtete Lindseys braune Augen,
während das Mädchen im Kopf die vergangenen zwei Tage durchging. »Haben Sie seither etwas von ihr gehört?«
»Nein. Nein, habe ich nicht. Ich habe ihr gestern eine Nachricht hinterlassen, aber sie hat nicht zurückgerufen.«
»Ist das nicht ungewöhnlich?«
»Eigentlich nicht. Zurückrufen ist nicht gerade Julias Stärke.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?«
Lindsey schüttelte den Kopf und warf die Apfelsinenschale weg.
»Bitte, Lindsey«, drängte Cindy, die spürte, dass das Mädchen etwas zurückhielt. »Wenn Sie irgendwas wissen …«
»Pardon.« Eine Frau aus Lindseys Kurs griff zwischen sie, um sich ein Stück Apfelsine zu nehmen.
»Ich weiß, dass sie ein Casting mit diesem berühmten Hollywood-Regisseur hatte. Michael Soundso …«
»Kinsolving. Ja, das wissen wir.«
»Wir?«
»Die Polizei ist eingeschaltet«, sagte Cindy in der Hoffnung, dass Lindsey erschrocken enthüllen würde, was sie wusste. Mittlerweile wurden sie von mehreren Frauen umringt, die angestrengt so taten, als würden sie ihr Gespräch nicht belauschen.
»Die Polizei? Glauben Sie, dass Julia etwas passiert ist?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
»Ich bin sicher, es geht ihr gut, Mrs. Carver.«
»Wie können Sie sich da sicher sein?«
Lindsey nahm ein weiteres Stück Apfelsine und stopfte es in den Mund. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen … Hören Sie, ich muss jetzt wirklich gehen. Mein Freund wartet unten auf mich.«
»Dann lassen Sie ihn warten, verdammt noch mal.«
»Verzeihung«, fragte die Frau am Empfang schüchtern. »Gibt es irgendein Problem?«
»Meine Tochter wird vermisst«, erklärte Cindy zu einem
Chor von besorgten Oh-jes. »Und ich glaube, dass dieses Mädchen vielleicht etwas darüber weiß.«
»Das stimmt nicht«, protestierte Lindsey gegenüber der wachsenden Menge Schaulustiger. »Ehrlich, ich weiß wirklich nichts.«
»Aber?«, wollte Cindy wissen. »Ich weiß, dass sich dahinter ein ›Aber‹ verbirgt. Was verschweigen Sie mir?«
Lindsey senkte den Kopf und sprach flüsternd aus einem Mundwinkel. »Es gab einen Mann. Vielleicht ist sie mit ihm zusammen.«
»Was für ein Mann?«
»Ich weiß seinen Namen nicht. Wirklich nicht«, beharrte Lindsey, als Cindy sie erneut unterbrechen wollte. »Sie hat immer sehr geheimnisvoll getan. Sie wollte mir nichts über ihn erzählen außer …«
»Außer?«
»Sie hat mir erzählt, dass sie verrückt nach ihm ist.«
»Sie hat erzählt, dass sie verrückt nach ihm ist, wollte aber seinen Namen nicht verraten?«
»Sie hat gesagt, das könnte sie nicht.«
»Was soll das heißen, sie konnte nicht?«
»Sie hat gesagt, es wäre eine sehr komplizierte Situation.«
»Inwiefern kompliziert? Ist er verheiratet?«
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