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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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die Ladentür auf, und zwei Jungen tobten lachend und sich gegenseitig knuffend die Straße hinunter.
    »Was ist zwischen Ihnen beiden vorgefallen?«, bohrte Cindy weiter und trat kurz zur Seite, um ein älteres Ehepaar vorbeizulassen. »Warum haben Sie sich getrennt?«
    »Das geht Sie nun wirklich nichts an.«
    »Bitte, Sean. Sagen Sie es mir einfach.«
    Sean lachte, doch es klang hohl und freudlos. »Sie wollen wissen, warum Ihre Tochter und ich uns getrennt haben, Mrs. Carver? Also gut, ich sage es Ihnen. Julia und ich haben uns getrennt, weil sie mich betrogen hat. Ich habe herausgefunden, dass sie sich schon seit Monaten hinter meinem Rücken mit einem anderen getroffen hat.«
    »Wer war es?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Cindy spürte, wie ihre Knie weich wurden und dann nachgaben. Sie sackte auf dem Bürgersteig in sich zusammen wie ein zusammengeknülltes Stück Papier, das irgendwer weggeworfen hatte.
    Sofort kniete Sean Banack neben ihr. »Mrs. Carver? Mrs. Carver, alles in Ordnung?«
    »Meine Kleine wird vermisst«, schluchzte Cindy hilflos.

    »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser«, bot Sean an. »Rühren Sie sich nicht vom Fleck. Ich bin sofort zurück.« Er verschwand wieder in dem Laden.
    Doch als er zurückkam, war Cindy bereits weg.
     
    »Wo bist du gewesen?«, fragte Leigh, noch bevor Cindy ganz durch die Tür war. Elvis wuselte sofort um ihre Füße. »Dein Telefon hat den ganzen Morgen ununterbrochen geklingelt.«
    »Julia …?«, fragte Cindy.
    »Nein«, sagte Leigh und folgte Cindy in die Küche. »Kein Mensch hat etwas von ihr gehört. Ich kann nicht glauben, dass sie seit zwei Tagen vermisst wird, ohne dass du mir etwas gesagt hast. Ich musste es von Mom erfahren.«
    Norma Appleton saß am Küchentisch und zuckte die Achseln, während Leigh an den Tresen trat. »Ich habe frischen Kaffee gekocht«, sagte sie. »Möchtest du welchen?«
    »Danke.« Cindy ließ sich auf den Stuhl neben ihrer Mutter sinken und kam sich seltsam obdachlos vor, wie ein unwillkommener Gast in ihrem eigenen Haus, während sie gleichzeitig staunte, wie mühelos ihre Schwester das Kommando übernommen hatte. Elvis breitete sich behaglich zu ihren Füßen aus. »Wann bist du gekommen?«
    »Vor ein paar Stunden.« Leigh stellte eine Tasse schwarzen Kaffee vor Cindy auf den Tisch. »Wo bist du gewesen? Es ist mittlerweile fast eins.«
    »Ich habe mit einer Freundin von Julia gesprochen.«
    »Und?«
    »Nichts.«
    »Ich nehme auch noch eine Tasse Kaffee«, sagte ihre Mutter.
    »Du hattest für heute genug.«
    »Leigh …«
    »Mom, fang keine Diskussion mit mir an, ja? Es ist Mittagszeit. Ich mache dir eine Suppe.«
    »Ich will keine Suppe. Was für Suppe denn?«

    Leigh ging zum Schrank und ließ den Blick über die Regale wandern. »Champignoncreme, Spargelcreme und Erbsen.«
    »Erbsen.«
    »Wo ist der Dosenöffner?«
    Cindy wies auf eine Ecke des voll gestellten Tresens, wo ein von der Wand gefallenes Gewürzregal neben einem Stapel ungeöffneter Post und alten Modezeitschriften stand, die Julia gesammelt hatte.
    »Du warst den ganzen Vormittag weg. Was hast du sonst noch gemacht?« Leigh machte die Dose auf und goss den Inhalt in einen bereitstehenden Topf.
    Cindy ging im Kopf all die Straßen durch, über die sie gefahren war, seit sie Sean vor dem Laden hatte stehen lassen. Die Poplar Plains Road in nördlicher Richtung, dann nach Osten über die St. Clair Avenue und weiter über die Yonge Street, die Eglinton Avenue, die Mount Pleasant Road und die Elm Street im blinden Zickzack durch das teure Viertel Rosendale, wo das alte Geld residierte, weiter die Shelbourne Street mit ihrer neo-schicken Schäbigkeit hinunter Richtung Süden bis in die Innenstadt, dann westlich und wieder nach Norden, hin und her, vor und zurück, während sie die Fußgänger auf beiden Seiten der Straße musterte, in geparkte Autos spähte und in die Sonne blinzelte in der Hoffnung, der Schatten an der übernächsten Straßenecke könnte Julias sein. »Wer hat angerufen?«, fragte sie, ohne Leighs Frage zu beantworten, und dachte, dass ihre Schwester ohne die gewohnte Make-up-Schicht und mit aus dem Gesicht gekämmten Haaren viel hübscher aussah.
    »Meg. Sie wollte wissen, wie’s dir geht. Sie hat gesagt, sie würde später noch mal anrufen. Und Trish. Ich soll dir ausrichten, dass sie die Karten für das Filmfestival abgeholt hat. Ich nehme an, sie wissen das mit Julia auch nicht.«
    Cindy nickte und fühlte sich gleichzeitig schuldig und erleichtert.

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