Bevor der Abend kommt
Ahnungslosigkeit schwanzwedelnd zur Tür gerannt.
Ich habe sie gestern gesehen , hörte Cindy einen Mann sagen. Sie saß gleich dort drüben . Er wies auf die Parkbank. Sie hat sich die Seele aus dem Leib geweint.
»Heather, warte.«
»Was denn?«
Cindy beobachtete, wie die Füße ihrer Tochter ihr Gesichtsfeld kreuzten. Sie braucht neue Turnschuhe, dachte Cindy müßig. Und ein paar neue Klamotten für die Uni. War diese Woche nicht Vorlesungsbeginn? Sie konnte sich nicht erinnern. »Warum hast du im Park geweint?«
»Was?«
»Ein Mann hat dich letzte Woche dort gesehen. Er hat gesagt, du hättest dir die Seele aus dem Leib geweint.«
Heather schüttelte den Kopf. »Das war ich nicht.«
»Heather …«
»Ich bin gleich zurück«, entschuldigte ihre Tochter sich und verschwand Richtung Haustür.
»Warum setzt du dich nicht«, riet ihre Mutter, als Heather weg war.
»Ich will mich nicht setzen.«
»Du machst dich noch ganz krank.«
»Durch Stehen?«
Ihre Mutter trat neben sie, legte sanft einen Arm auf Cindys Schulter und führte sie zum nächsten Stuhl. »Du hast getan, was du konntest, Schätzchen. Jetzt musst du die Sache der Polizei überlassen.«
»Was ist, wenn die versagt? Was ist, wenn man sie nie findet?«
»Sie werden sie finden.«
»Es verschwinden dauernd junge Frauen. Manchmal kommen sie nie wieder nach Hause.«
»Sie wird schon nach Hause kommen«, bekräftigte ihre Mutter, und Cindy atmete die Worte gierig ein wie eine Erstickende.
Unvermittelt sprang sie wieder auf. »Ich kann doch nicht einfach hier rumsitzen und nichts tun.«
»Du musst die Ruhe bewahren. Du musst optimistisch bleiben. Die Polizei ruft an, sobald sie irgendetwas herausgefunden hat.«
»Ich kann nicht warten. Ich muss irgendwas tun.« Cindy lief zur Haustür und öffnete sie.
»Warte, Cindy! Was machst du denn? Wohin willst du?«
»Ich muss hier raus.« Cindy rannte die Stufen zur Einfahrt hinunter und stieg in ihr Auto.
»Bitte, Liebes. Deine Freundinnen werden jeden Moment hier sein. Wohin …?«
Sie setzte rückwärts auf die Straße und fuhr mit heulendem Motor Richtung Avenue Road.
Nicht einmal fünf Minuten später rannte sie über die Yorkville Avenue, wo sie mehrfach beinahe mit kamerabehängten Touristen zusammengeprallt wäre, die die beliebte, von Boutiquen gesäumte Straße bevölkerten. »Tut mir Leid«, rief sie im Laufen, während ihr Blick an den Hausnummern der schicken, zweistöckigen Fassaden entlangglitt, bis sie die Nummer 320 gefunden hatte. Sie riss die Eingangstür auf, atmete tief durch und wartete, bis sie sich einigermaßen wieder gefasst hatte, bevor sie langsam die Treppe hinauf zur Suite 204 ging. Ein junger Mann, dünn wie ein Strich in der Landschaft, mit stacheligem, schwarzem Haar, empfing sie in einem kleinen Wartebereich. »Ich möchte gern Mr. Kinsolving sprechen«, erklärte sie ihm mit einem auch für sie überraschenden Selbstbewusstsein.
Der junge Mann strich kurz mit dem Rücken der linken
Hand über seine lange Nase, bevor er sich über seinen Schreibtisch beugte, um im Terminkalender nachzusehen. »Und wer sind Sie?«
»Cindy Appleton«, antwortete sie, wobei ihr ihr Mädchenname nur ungelenk über die Lippen kam. Er fühlte sich an wie ein Kostüm, das einmal schick gewesen war und nun nicht mehr passte. »Ich bin vom Filmfestival.«
»Haben Sie einen Termin?«
»Selbstverständlich.« Cindy sah auf die Uhr. »Halb zwölf. Pünktlich auf die Minute.«
Der junge Mann blätterte in seinem Kalender. »Es tut mir Leid. Da ist uns offenbar ein Fehler unterlaufen. Ich kann Sie nicht in meinem …«
»Es ist überaus wichtig. Ich fürchte, es gibt Terminprobleme bei der Vorführung von Mr. Kinsolvings neuem Film …«
»Terminprobleme? Oh je. Warten Sie einen Moment. Ich werde sehen, ob Mr. Kinsolving ein paar Minuten erübrigen kann. Wie war noch Ihr Name?«
»Cindy Appleton«, wiederholte Cindy und fühlte sich beim zweiten Mal schon ein wenig besser. Warum hatte sie nie daran gedacht, ihren Mädchennamen wieder anzunehmen?
Der hagere junge Mann verschwand in dem angrenzenden Büro und steckte Sekunden später seinen Kopf wieder aus der Tür. »Mr. Kinsolving wird Sie jetzt empfangen.«
»Danke.« Cindy ging langsam durch den karg möblierten und mit Postern des Toronto Film Festival vergangener Jahre dekorierten Warteraum und dachte: Was jetzt?
Zuerst sah sie niemanden, nur die hohe Rückenlehne eines Ledersessels, einen großen Schreibtisch und das
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