Bevor der Abend kommt
einlegen?«
»Bitte«, sagte Michael, und sein Assistent nahm das andere Band heraus und schob das neue in den Rekorder.
Cindy nippte an ihrem Wasser und spürte, wie die Bläschen auf ihrer Nase platzten wie Riechsalz. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie der Bildschirm aufflackerte, bevor das Bild einer Frau erschien. Wie die andere Frau war auch sie blond und schön. Cindy ertappte sich dabei, auf die Lippen des Mädchens zu starren und sich zu fragen, ob sie zu schmal waren.
»Ich glaube, sie ist die Nummer acht.« Philip ließ das Band vorlaufen.
Eine Parade wunderschöner junger Frauen flackerte über den Großbildschirm. Sie warfen die Arme hoch und ließen sie wieder fallen wie Marionetten, ihre Köpfe wandten sich hierhin und dorthin, ihre blonde Haare flogen von einer Schulter auf die andere, während das Band im Schnelldurchlauf zu ihrer Tochter vorspulte.
»So viele Frauen und so wenig Zeit«, sinnierte Michael laut. »Verzeihung. Ich wollte nicht oberflächlich klingen.«
Cindy schüttelte den Kopf, sie hatte ihn ehrlich gesagt kaum gehört, und erst seine Entschuldigung gab seinen Worten das Gewicht, das sie in ihr Bewusstsein sinken ließ. Sie verzog das Gesicht, als das Band plötzlich langsamer wurde und Julias Gesicht den Bildschirm füllte. Philip drückte auf einen weiteren Knopf, und das Bild stand still. Julia saß auf der anderen Seite des Raumes und starrte ihre Mutter aus einem großen rechteckigen Kasten mit einem eingefrorenen Lächeln an.
»Oh ja«, sagte Michael. »Jetzt erinnere ich mich an sie. Ihr Vater ist Anwalt. Er arbeitet für unsere Firma.«
»Das ist sie«, bestätigte Philip und trat erneut in den Hintergrund.
»Ja, sie war sehr gut«, fuhr Michael abwesend fort und lehnte sich an die Schreibtischkante. »Sind Sie sicher, dass Sie das sehen wollen?«
»Bitte.«
Er machte seinem Assistenten ein Zeichen, worauf dieser den entsprechenden Knopf drückte und Julias Gesicht zum Leben erweckte.
(Julias Casting: Ein schöne junge Frau sitzt auf einem kleinen Holzstuhl, die atemberaubend schönen Beine übereinander geschlagen. Sie trägt eine rote Lederhose und eine weiße Bluse, die in dem grellen Licht leicht schillert. Die Kamera fährt langsam auf ihr Gesicht, und sie nennt ihren Namen. »Julia Carver«, erklärt sie deutlich und gibt dann ihren Agenten an. Sie senkt den Kopf und lässt ihre Haare ins Gesicht fallen. Nach mehreren Sekunden hebt sie den Kopf wieder, und es ist beinahe so, als wäre Julia verschwunden und ein anderes Mädchen an ihre Stelle getreten. Dieses andere Mädchen ist härter, zorniger und erotischer. Und da ist noch etwas, das ihre trotzige Pose zu verbergen sucht. Hinter ihrer Wut, ihrer Härte, ihrer unbestreitbaren Sinnlichkeit liegt eine Trauer, ein Hunger, ein nacktes Bedürfnis. Julia lehnt sich zurück, legt einen Ellenbogen über die Stuhllehne und mustert einen unsichtbaren Besucher mit den Augen einer verlorenen Seele. »Schau an, wen haben wir denn da?«, sagt sie. »Was ist passiert? Hast du deine Zigaretten vergessen?«
»Ich wollte dich noch einmal sehen«, erwidert eine Stimme hinter der Kamera.
Julia zieht in einer quälend vertrauten Geste die Augenbrauen hoch. »Soll ich deswegen jetzt weiche Knie kriegen?«, fragt sie. »Soll ich? Wenn ja, funktioniert es nämlich nicht. Siehst du? Meine Knie sind kein bisschen weich.« Sie spreizt die Beine und schlägt sie provozierend langsam wieder übereinander, beugt sich vor und spricht direkt in die Kamera. »Was ist los, Baby? Enttäuscht? Überrascht? Hast du gedacht, du könntest einfach
so zurück in mein Leben spazieren, und alles würde wieder so sein, wie es war, bevor du mit meiner besten Freundin abgehauen bist? Wie geht es Amy übrigens? Nein, sag es mir nicht. Die Tatsache, dass du wieder hier bist, ist Antwort genug.«
»Caroline …«, unterbricht die Stimme hinter der Kamera sie.
»Ich hätte dir gleich sagen können, dass sie beschissen im Bett ist.« Die Worte perlen über Julias Lippen wie eine verirrte Zärtlichkeit. »Ich hätte dir die Zeit und die Mühe sparen können. Ich habe schließlich etliche Jahre mit ihr zusammengewohnt. Ich habe die Männer kommen und gehen sehen. Ich hab ihr falsches Gestöhne und die gespielten Orgasmen gehört, mit denen sie gehofft hat, sie zu täuschen. Aber keiner war so ein Idiot wie du am Ende.« Julia wirft den Kopf in den Nacken und lacht hässlich. »Was ist los, Baby? Bist du zu mir zurückgekommen, weil du eine
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