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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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körnige Bild einer schönen jungen Frau, das den großen Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand ausfüllte. »Schau an, wen haben wir denn da?«, sagte die junge Frau, als würde sie Cindy direkt ansprechen. Cindy erstarrte, ihr Blick klebte an dem Gesicht, das
Julias in gewisser Hinsicht ähnlich, aber voller und grober war. »Was ist passiert? Hast du deine Zigaretten vergessen?«
    Ein Knopfdruck, und das Bild blieb plötzlich stehen, dann wurde das Band zurückgespult, stoppte erneut und lief wieder vorwärts. »Schau an, wen haben wir denn da?«, wiederholte die Frau. »Was ist passiert? Hast du deine Zigaretten vergessen?«
    Wieder ein Klicken. Diesmal erstarrte das Bild und vibrierte leicht in seiner erzwungenen Reglosigkeit.
    »Und, was meinen Sie?«, fragte eine tiefe Stimme hinter der hohen Lehne des Ledersessels. »Würden Sie sie gern ficken?«
    »Was?« Cindy machte einen Schritt zurück und spürte unter ihren Sohlen die knackenden Zehen des Assistenten, der vergeblich versucht hatte, ihr auszuweichen.
    Der Stuhl drehte sich unvermittelt und gab den Blick frei auf einen gnomartigen Mann mit attraktiv faltigem Gesicht. Cindy erkannte den berühmten Regisseur sofort an seinem zerzausten Haar und dem obligatorischen schwarzen T-Shirt. »Verzeihung«, sagte er, ohne Anstalten zu machen, sich zu erheben, und ein träges Lächeln breitete sich über seine Pausbacken. Zeitschriftenartikel erwähnten stets seine listigen grünen Augen und seine aknevernarbte Haut. Beides stach in Wirklichkeit stärker hervor als auf Fotos. »Ich dachte, Sie wären ein Mann. Ich hätte wissen müssen, dass ›Sydney‹ auch ein Frauenname sein kann.«
    »Cindy«, verbesserte sie.
    »Cindy«, wiederholte Michael Kinsolving viel sagend, und Cindy begriff, dass es nie einen Irrtum gegeben hatte. Sie stand vielmehr einem Mann gegenüber, der immer genau wusste, was er tat. Er hatte sie mit seiner Frage überrumpeln wollen, um auf subtil sadistische Art die Situation zu beherrschen und Cindy auf ihren Platz zu verweisen. Er war offensichtlich ein Mann, der es gewöhnt war, auch im wirklichen Leben Regie zu führen. »Vom Ficken einmal abgesehen, was halten Sie von ihr?«

    Cindy rang mühsam um Fassung. »Ich weiß nicht genau, was für eine Antwort Sie von mir erwarten?«
    »Finden Sie sie schön?«
    »Ja.«
    »Sexy?«
    »Ich denke schon.«
    »Ihre Augen sind nicht zu klein?«
    »Ich glaube nicht …«
    »Ihre Lippen sind nicht zu schmal?«
    Cindy straffte die Schultern und atmete tief ein. »Mr. Kinsolving …«
    »Ich suche nach einem ganz bestimmten Look. Ich möchte, dass Frauen dieses Mädchen ansehen und denken: ›die arme Seele‹. Und ich will, dass Männer sie ansehen und denken: ›Blow-Job‹. Deswegen glaube ich, dass ihre Lippen vielleicht zu schmal sind«, sagte er, als ob er übers Wetter reden würde.
    Cindy bemühte sich, ihm nicht die Genugtuung zu geben, schockiert auszusehen. Redeten alle Regisseure so über die jungen Frauen, die ein Casting bei ihnen hatten? Junge Frauen, die für eine Chance, ihre Träume zu verwirklichen, ihre Seele und oft noch einiges mehr entblößten? Frauen, die untersucht, seziert und schlussendlich auf eine Reihe von Körperteilen reduziert wurden, die nie ganz der Norm entsprachen? Zu kleine Augen, zu schmale Lippen, verlorene Seelen. »Was ist mit Talent?«
    »Talent?« Michael Kinsolving wirkte belustigt.
    »Ist sie eine gute Schauspielerin?«
    Jetzt lachte Michael Kinsolving laut. »Wen interessiert’s? Sie sind alle gut. Das ist das Mindeste.«
    »Das Mindeste?«
    »Man muss sie ficken wollen«, erklärte der zwergenhafte Regisseur und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Das ist es, was einen Star ausmacht. Wenn sie fickbar sind, sind sie an der Kinokasse erfolgreich.«

    »Mr. Kinsolving …«
    »Wer sind Sie?«, fragte er und betrachtete seine manikürten Fingernägel. »Ich weiß, dass Sie nicht die sind, die Sie zu sein vorgeben. Sie sind jedenfalls ganz bestimmt nicht vom Filmfestival.«
    Cindy atmete geräuschvoll aus, während ihr Blick über die nackten weißen Wände huschte. »Mein Name ist Cindy Carver.«
    »Carver«, wiederholte Kinsolving, ohne sie anzusehen. »Warum kommt mir der Name so bekannt vor?«
    »Mein Mann, mein Ex-Mann, ist Tom Carver.« Sie lächelte gezwungen.
    Doch der Hollywood-Regisseur hatte offenbar weiterhin keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte.
    »Meine Tochter ist Julia Carver. Sie hatte am vergangenen Donnerstag um elf Uhr ein

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