Bevor du gehst
versuchte, Lee zum Schweigen zu bringen. Schließlich war es sein Auto, und sie waren weit von zu Hause entfernt.
»Bestimmt haben sie es billiger gekriegt«, warf Jude ein.
»Ja, aber nachdem sie eingezogen waren, ist dieser ganze kranke Scheiß passiert«, fuhr Lee fort. »Zum Beispiel überall Fliegenschwärme, sogar im Winter. Und der Vater ist jede Nacht schweißgebadet um Viertel nach drei aufgewacht – genau der Zeitpunkt der Morde. Aus den Wänden kam der grüne Schleim gequollen. Und an einem Abend haben sie im Kaminfeuer ein Dämonengesicht gesehen.«
»Alles Bullshit«, sagte Canino. »Bloß Schwindel.«
»Aber ein schöner Schrottfilm«, stellte Jude anerkennend fest.
»Halt mal kurz«, sagte Corey. »Ich muss pinkeln.« Er stieg aus und steuerte auf ein paar nahe gelegene Büsche zu. Damit hatte er seinen Anspruch auf den Beifahrersitz verloren.
Lachend und ächzend zwängte sich Corey eine Minute später auf den Rücksitz. Er hatte die Finger noch an seinem Hosenschlitz. »Los, los, los!«
»Was ist denn, verdammt?« Lee blickte nach hinten.
Schon trommelte eine Faust ans Seitenfenster. Ein weiß haariger alter Knacker, der wie ein rachedurstiges Ge spenst aus dem Nichts aufgetaucht war. Spuckend und geifernd beschimpfte er die Jungs und forderte sie auf zu verschwinden, sie hatten hier nichts zu suchen, blablabla. Für einen Großvater regte er sich ziemlich auf. Der Hengst zeigte ihm den Finger, und Lee stieg aufs Gas – vier lachende, leicht angeschickerte Typen, die davonrasten ins Herz der Samstagnacht und in den Beginn von Jude Fox’ sechzehntem Sommer auf diesem Planeten.
12
Operation Becka trat immer stärker in den Vordergrund. Mit Corey als spirituellem Berater – seine Ausführungen ließen sich auf die Formel »Mach es, Alter!« bringen – grübelte Jude viele Stunden über Freifrau Becka nach. In der Arbeit nutzte er jede Gelegenheit, mit ihr über belangloses Zeug zu reden, herumzualbern und Pausen zu machen. Er ging sogar so weit, CD s für sie zu brennen, was wirklich nur jemand macht, der total verknallt ist. Mühsam suchte er jeden Song nach maximaler Bedeutung und Wirkung aus. Die Musik sollte ihr seine Seele zeigen, sein schlagendes Herz, seine unausgesprochene Tiefe, das in ihm schlummernde Gute. Mit anderen Worten, es waren wirklich traurige Stücke, eins nach dem anderen. Und alle in Moll. Jude schob die CD s in Beckas schmale Finger und erzählte etwas von diesen wirklich tollen Songs, die sie unbedingt hören musste.
Becka ihrerseits schien Judes unbeholfene Aufmerksamkeit zu genießen. Sie lauschte der Musik, gab zu einigen Stücken positive Kommentare ab und warf den Möwen alte Brezelstücke zu. Oft unterhielten sie sich in der Mittagspause im Schatten eines Betondurchgangs zwischen der Imbisshalle und den WC - und Duschanlagen für die Frauen. Und es war viel netter, als es vielleicht klang. Zusammen mit Becka war das fast immer so.
»Was ist mit deiner Familie?«, erkundigte sie sich. »Hast du Brüder oder Schwestern?«
»Nein, ich bin der Einzige«, antwortete Jude. Doch das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Also erzählte er ihr von seiner kleinen Schwester Lily, die vor ungefähr sechs Jahren gestorben war.
»Das tut mir leid.« Becka legte ihm die Hand auf den Oberarm.
»Ja, nein. Schon gut. Ich meine, es war natürlich total ätzend, und manchmal ist es das immer noch, aber irgendwie gewöhnt man sich daran.« Beklommen und verlegen wandte er den Blick ab. Er hatte sich überhaupt nicht daran gewöhnt. Wollte nicht darüber reden, hatte schon zu viel gesagt.
»Wie ist sie …?«
Mit dumpfen Augen schaute er sie an. »Ich kann nicht darüber sprechen, Beck. Jetzt nicht.«
Becka nickte, ohne irgendeine tröstende Bemerkung zu machen. Sie saß nur schweigend mit ihm zusammen. Er fand es toll, dass Becka nicht versuchte, ihm die Sache mit leerem Gelaber zu versüßen. All diese flachen Floskeln, die er im Lauf der Jahre gehört hatte, wie traurig es war, wie schwer es für ihn gewesen sein musste, und wie schrecklich ungerecht es war – das war nur Heftpflaster. Dieses Gerede von Leuten wie seiner Nachbarin Mrs. Buchman, die bohrte und drängte und mitfühlende Geräusche von sich gab, obwohl er einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte.
Jude war dankbar, dass Becka ihn nicht ausfragte.
»Hey, weißt du was?« Becka schaute auf. »Ich hab gehört, wir kriegen einen neuen Chef – dieser Typ, von dem uns Roberto erzählt hat.«
»Kenny Mays,
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