Bevor du gehst
düsten sie los, erleichtert, endlich ein Ziel zu haben. Es war ein wesentlicher Unterschied, ob sie die ganze Nacht herumstreunten wie vier verirrte Loser oder tatsächlich etwas vorhatten. Zur allgemeinen Überraschung krümmte sich Vinnie zusammen, um tief aus den unteren Regionen seiner Jeans eine schmale Flasche mit brauner Flüsskigkeit zu kramen.
»Klasse, wo hast du denn die her?«, fragte Lee.
»Vom Uranus wahrscheinlich«, bemerkte Corey stirnrunzelnd.
Vinnie grinste. »Hab die Bar von meinem Alten geplündert. Er kriegt ständig Flaschen als Weihnachtsgeschenke. Wenn da was fehlt, das merkt er gar nicht.«
Vinnie schraubte den Deckel ab und schnupperte an dem Schnaps. »Bourbon, Jungs. Prost!« Er setzte die Flasche an die Lippen und kippte einen kräftigen Schluck.
»Lass uns noch was übrig«, beschwerte sich Lee. »Gib das Ding gleich mal nach vorn.«
»Lee …«, mahnte Corey.
»Was ist? Willst du aussteigen und zu Fuß gehen?« Lee riss die Flasche an sich. »Ich nehm nur einen kleinen Schluck, das ist alles. Seit wann bist du bei Mütter gegen Alkohol am Steuer?«
Lee reichte den Whiskey an Jude weiter, der ablehnte. »Nein, danke.«
»Stimmt, du stehst mehr auf Runner’s High«, stichelte Vinnie. »Ist da eigentlich was dran? Bist du nach einem langen Lauf voll auf Droge?«
Jude zuckte die Achseln.
»Von wegen Runner’s High«, spottete Lee. »Wenn ich um den Block laufe, möchte ich mir höchstens die Lunge rauskotzen.«
Schweigend fuhren sie dahin, eingelullt vom Summen und Surren des Gummis auf dem Asphalt. Geheimnisvoll strichen die Scheinwerfer über die feuchte, schimmernde Straße. Sie waren froh, ein Ziel zu haben: das Amityville-Haus. Der Samstagabend war gerettet.
Jude hätte Probleme gehabt, bei seinem Vater Alkohol zu stehlen. Der Mann war Mr. Biofreiland persönlich. Ständig schob er Bananen in den Mixer, aß löffelweise Proteinmischungen, redete von Ballasstoffen und – am allerschlimmsten – von seiner wöchentlichen Darmreinigung mit Acai-Beeren. Mr. Fox zählte seine Kalorien, überwachte seinen Cholesterinspiegel und erschauerte beim bloßen Gedanken an einen Eisbecher. Sein Vater und Bourbon trinken? Eine ziemlich absurde Vorstellung.
Seine Mutter dagegen hatte praktisch eine eigene Apotheke im Medizinschrank, die Jude genauestens erforscht hatte: kleine Fläschchen Vicodin und OxyContin gegen Schmerzen und vielleicht noch einiges andere. Die heikle Chemie des Glücks. Wenigstens trank sie nicht mehr. Immerhin etwas.
Nach einem weiteren kleinen Schluck gab Lee den Bourbon mit großspuriger Geste weiter. Jude bemühte sich, niemanden zu verurteilen. Jeder hatte eben seine eigene Art, die inneren Wölfe in Schach zu halten.
»Was hast du gestern Nacht getrieben, Corey?«, fragte Canino.
»Nicht viel«, antwortete Corey. »Kleine Power- DVD - Session. Hab mir die letzten Folgen von Friday Night Lights reingezogen. Warum hat mir keiner gesagt, dass die Serie so stark nachgelassen hat? Kaum mehr Football drin. Dann hab ich noch Frühstück für starke Männer ausgelesen. Total abgefahren und amüsant.«
»Lesen ist schlecht für die Augen«, merkte der Hengst an. »Du wirst noch blind davon.«
»Danke für den Tipp, Mr. Null-Dioptrien«, konterte Corey.
» Frühstück für starke Männer ? Worum geht’s denn da? Um Cornflakes?« Lees Lachen nach seinem Witz klang wie das »Ha-ha-ha« aus der Konserve bei Fernseh-Sitcoms. Alles andere als komisch.
»Genau, du Blödmann. Ich hab ein Buch über eine Packung Cornflakes gelesen«, antwortete Corey. »Aber im Ernst. Kurt Vonnegut war ein total aufrechter Typ. Er hat sich die ganze Dummheit in der Welt angesehen und gezeigt, wie blöd das alles ist – und dabei war er auch noch wahnsinnig witzig.«
»Aha, und was soll so blöd sein?« Lee klang, als fände er diesen Vonnegut nicht besonders sympathisch.
»Zum Beispiel das Star-Spangled Banner.«
»Das hält er für blöd? Unsere Nationalhymne?« Lee schaltete in den Streitmodus.
Jude stöhnte innerlich. Lee wurde allmählich zum Problem. Auto hin oder her, das konnte nicht so weitergehen. Da musste sich was ändern. Jude konnte es kaum mehr erwarten, seinen Führerschein zu machen. Freiheit.
»Gib’s doch zu, Lee, das ist ein bescheuerter Song«, antwortete Corey. »Vonnegut sagt, es ist Kauderwelsch mit ein paar drübergestreuten Fragezeichen … ›Oh, say, can you see …?‹«
»Was will er denn? In dem Lied geht es um eine Schlacht – ›rockets’
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