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Bevor du gehst

Bevor du gehst

Titel: Bevor du gehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Preller
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ergreifen.
    »Er kann noch gehen!«, spottete seine Mutter.
    Jude explodierte. »Warum legst du dich nicht wieder ins Bett, Mom? Es ist echt leichter, wenn du zugedröhnt bist.«
    » Was hast du zu mir gesagt?«
    »Joan, Jude, hört auf.« Mr. Fox war aufgesprungen und breitete beschwichtigend die Hände aus.
    Schnell trat sie zu Jude, und ihre dünnen Finger umklammerten seinen Oberarm wie Vogelkrallen.
    Am ganzen Körper zitternd fuhr er herum und starrte sie böse an.
    »So kannst du nicht mit mir reden – ich bin deine Mutter. So was kannst du nicht sagen!« Ihre Fingernägel bohrten sich in seine Haut.
    Jude riss den Arm los. Er schaute ihr ins rot gefleckte Gesicht und bemerkte die Panik in ihren Augen. Er wusste, dass er ihr furchtbar wehgetan hatte, doch er war nicht imstande, etwas Versöhnliches zu sagen, um ihren Schmerz zu lindern.
    Mit zusammengebissenen Zähnen beugte sich Jude zu ihr. »Du hast keine Ahnung. Du verstehst nicht, wie ich mich fühle.«
    Sie taumelte zurück wie nach einem Schlag. »Jude«, flüsterte sie. »Ist dir das denn nicht klar? Ich … ich verstehe es ganz genau.«
    Nein, nicht Lily , dachte Jude. Das schaffe ich nicht. Hier geht’s nicht um Lily. Er schnappte sich seinen iPod, marschierte zur Haustür und stieß sie knallend auf.
    »Jude!«, rief sein Vater. »Komm zurück – ich will, dass du sofort zurückkommst, Jude!«
    Und dann rannte er. Barfuß. Ohne Hoffnung, ohne Ziel. Er rannte, um die Wut zu verbrennen, rannte wie ein Gejagter. Er lief zu schnell los, schwer schnaufend wie ein Sprinter, kämpfte sich durch das unveränderliche Gewucher von Vorortstraßen, die nach den Bürgerkriegsgenerälen Sherman und Grant, Thomas und Meade benannt waren. Dann kamen die Namen von Universitäten: Princeton und Adelphi, Yale und Amherst. Schließlich wurde sein Tempo gleichmäßiger, die Schritte wurden lang und kräftig, sein Atem regulierte sich. Ruhe. Er stoppte kurz und ließ den Daumen über den iPod fliegen, bis er Arcade Fire gefunden hatte, und drehte laut auf. Ihr wisst nicht, wie es sich anfühlt , dachte er. Wie es sich anfühlt, ich zu sein.

27
    Spätabends schob Mrs. Fox die Tür zu Lilys Zimmer auf, ganz vorsichtig wie Finger, die sanft über eine Fleischwunde tasten, und entdeckte Jude, der mit ausgebreiteten Armen im Bett seiner Schwester schlief.
    Der Junge regte sich nicht, und so trat seine Mutter näher, bis sie das Heben seiner Brust sehen konnte und hörte, wie ihm die Luft durch die geöffneten Lippen drang.
    Als Mrs. Fox so dastand und ihren schlafenden Sohn betrachtete, ging es wie ein Riss durch sie, ein weiterer kleiner Sprung im Herzen. Nicht lauter als ein Flüstern zog sie sich in den Flur zurück und zog hinter sich die Tür zu. Wieder in ihrem Bett starrte sie mit sandtrockenen Augen die Wand an, alle Tränen versiegt, das Herz ein Trümmerhaufen, und grübelte und grübelte.
    Als Jude erwachte, fühlte er sich merkwürdig gutgelaunt. Noch nie hatte er in Lilys Zimmer geschlafen, und er konnte sich nicht einmal erinnern, wie es dazu gekommen war. Er schlug die Augen auf und sah Lilys Sachen: gerahmte Fotos, ein Plakat mit einer Katze auf einem Ast und dem in violetten Buchstaben gedruckten Text GUT FESTHALTEN !, Zeichnungen, Bilderbücher – Gute Nacht, Mond , Die hungrige Raupe – ein Regal mit Puppen und Stofftieren. Er streckte sich, berührte die heiligen Schätze und gestattete es seinen Fingerspitzen, über Lilys Foto zu streichen und sanft auf ihren lächelnden Lippen zu landen. Er zog eine Kommodenschublade auf. Mädchenfarben, Lavendel, Pink, Gelb. Die Kleider waren von der liebenden Hand seiner Mutter sorgfältig gebügelt und zusammengelegt worden. Jude nahm eine große, braune Mappe aus der untersten Schublade. Sie wurde mit einem Gummiband zusammengehalten und enthielt Lilys Kunstwerke: hauptsächlich Zeichnungen von Katzen mit runden Augen, dreieckigen rosa Nasen und drei geraden Schnurrbarthaaren auf jeder Seite. Er saß auf dem Bett und blätterte die Bilder nacheinander durch. Gegen Ende des Stapels stieß Jude auf eine Zeichnung, die ihm den Atem verschlug. Zwei unbeholfen skizzierte Gestalten Hand in Hand, eine gelbe Sonne in der rechten oberen Ecke, unten eine Zickzacklinie aus blauem Gras.
    Und mit Buntstift über den Himmel gemalt: ICH LIEBE JUDE .

28
    Auf dem Küchentisch wartete das Frühstück auf ihn. Ein grünes Platzdeckchen, weiße Schüssel, Löffel, Grapefruit und eine gefaltete Serviette. Ein schmales Glas

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