Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
doch nichts, in der Vergangenheit herumzuwühlen. Vermutlich hat der Tod dieses Freundes Stefans Depression verschlimmert. Das war alles. Und vielleicht hat er es einfach nicht über sich gebracht, dir davon zu erzählen. Wer weiß denn, was er zuletzt gedacht hat, vielleicht war es logisch für ihn, in seiner Welt. Du weißt doch, wie depressive Menschen argumentieren.«
Vijay blickt mich fast flehend an.
Ich nicke stumm. Ich weiß, dass er auf eine bestimmte Weise recht hat. Ich werde niemals eine Antwort finden. Aber ich muss es versuchen. Man kann nicht einfach aufhören, es zu versuchen. Kein Mensch, der unter unklaren Umständen einen nahen Angehörigen verloren hat, kann so ganz akzeptieren, dass die Wahrheit niemals ans Licht kommen wird, auch wenn es eben so ist. Der Wille zu verstehen, zu wissen, ist so unbezwinglich, so stark. Und jetzt sitze ich hier mit etwas, das wie ein letzter Strohhalm wirkt, dem Schatten ei ner Möglichkeit, vielleicht mehr zu begreifen, Gewissheit zu erhalten. Wie soll ich diese Möglichkeit denn loslassen können? Sie verschwinden sehen?
Aina kommt zurück und lässt sich mir gegenüber auf den Stuhl fallen. Ihre Augen sind rot, und ich weiß, dass sie geweint hat. Was bei Aina sehr selten vorkommt. Ich strecke die Hand aus und drücke ihre. Fest.
»Entschuldige, dass ich so verdammt zickig war. Es tut mir so leid.« Aina nuschelt und wischt sich die Augen mit einem Papiertaschentuch.
Vijay sieht besorgt aus und runzelt energisch die Stirn.
»Es ist etwas passiert«, sagt Aina jetzt. »Es ist sicher nichts, aber …« Sie schüttelt den Kopf und lächelt, sie sieht aus wie ein tapferes kleines Kind, das sich große Mühe gibt, nicht zu weinen, obwohl sein Lieblingsspielzeug in tausend Stücke zerbrochen ist.
»Was ist nichts?«, fragt Vijay energisch nach.
»Es ist sicher nichts. Nur so ein kleiner Knoten, in der Brust. Ich war heute zur Untersuchung.« Sie lächelt wieder dieses aufgesetzt tapfere Lächeln, und ich spüre, wie sich in mir eine Eiseskälte ausbreitet. Ainas Großmutter ist mit fünfzig an Brustkrebs gestorben. Eine Tante ist kurz nach ihrem vierzigsten Geburtstag derselben Krankheit erlegen.
Aina schaut mich an und lächelt wieder.
»Es ist sicher falscher Alarm. Bestimmt ist es falscher Alarm.«
Vor meinem Fenster tanzen die Schneeflocken durch die Dämmerung. Verschwunden sind alle vagen Hoffnungen auf Frühling und Wärme. Der einsame Huflattich, den Erik und ich kürzlich hier beim Haus gefunden haben, ist jetzt unter dichten Schneeschichten begraben.
Irgendwo in dem wirbelnden weißen Schnee machen Erik und Markus einen Spaziergang. Dass ich das Wetter für zu schlecht befand, hat Markus nicht weiter interessiert. Er gab mir zu verstehen, dass ich zu weichlich sei. Dass ein wenig Schnee noch keinem Kind geschadet habe und dass dieses Wetter in Norrland als mild gelten würde.
Man kann nur etwa zehn Meter weit sehen, und ich kann die Tannen im Wasser nur erahnen. Ich hoffe wirklich, dass Markus nicht mit Erik aufs Eis hinausgegangen ist. Das scheint sein Lieblingsausflug zu sein: rauf auf das dünne Meereseis vor unserem kleinen Haus, am liebsten mit Erik, der total hilflos wäre, wenn sie durch das Eis brächen. Ich stelle mir vor, wie sich sein Nylonoverall mit kaltem schwarzem Wasser füllt und ihn wie ein großes rotes Bleigewicht in die Tiefe zieht, in das Schwarze.
Hinab zu Stefan.
Vor mir auf dem Küchentisch liegt Stefans kleiner schwarzer Kalender zusammen mit etlichen Papieren aus dem Karton, die ich noch nicht durchgesehen habe, und der Kalender scheint mir zuzuflüstern, scheint mich unwiderstehlich anzuziehen. Ich lasse die Hand darauf ruhen, glaube fast zu spüren, wie er vibriert, wie er lebt. Es kommt mir vor wie eine Art Surren, als wimmele er nur so von winzigen Insekten. Als enthalte er Stefans gesamte Geschichten. Seine Geheimnisse. Die er mit in die Tiefe genommen hat.
Das Feuer im Kamin knistert, und ich schaudere unwillkürlich. Was passiert hier eigentlich? Was glaube ich, mit alldem erreichen zu können? Stefan wird jedenfalls nicht zurückkehren.
Ich ziehe einen großen leeren Bogen im Format A3 hervor, den ich von der Arbeit mitgebracht habe. Überlege eine Weile und ziehe dann eine Linie über das gesamte Papier, 2005 schreibe ich ganz oben hin. Dann trage ich die Monate ein, die etwas bedeutet haben. Die letzten Monate, Januar, Februar, März, April, Mai und Juni. Meine Hand zittert, und mitten im Sommer 2005 gibt
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