Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
über das Eis laufen, alle vier. Ich halte Markus an der Hand, und Stefan trägt Erik auf seinen Schultern. Die Sonne geht gerade über Rönnskär unter, und die Schatten über dem Schnee, der die Inseln umhüllt, sind lang und blau. Stefan hat gefrorenes Laub in den Haaren, und bei jedem Schritt fallen einige Blätter herunter. Erik johlt vor Begeisterung, er sitzt so gern huckepack und hat den vollen Überblick über alles, was passiert.
Das Eis ist blank und schwarz und durchzogen von großen klaffenden Spalten, die das Meer darunter entblößen. Wir müssen uns die ganze Zeit in Acht nehmen, um nicht zu fallen, die ganze Zeit über die Spalten steigen, die sich noch dazu dauernd bewegen, sie erweitern sich, verschieben sich, reiben sich aneinander, und das führt zu einem dumpfen Dröhnen und Knacken.
»Wir müssen vorsichtig sein, damit wir nicht einbrechen«, sage ich. »Erik kann nicht schwimmen. Er würde sofort untergehen. Sein Overall würde sich mit Wasser vollsaugen, und er würde untergehen.«
»Ich trage ihn«, sagt Stefan.
Dann kommen wir zu einem Spalt, der größer und länger als alle anderen ist. Er zieht sich offenbar die ganze Strecke von Rönnskär bis zum Festland und vergrößert sich rasch. Kaltes Wasser quillt heraus und umschließt unsere Füße. Ich springe über die Rinne auf die andere Seite. Als ich lande, wogt das Eis, und mir geht auf, dass ich auf einer kleineren Eisscholle stehe, die sich losgerissen hat.
Stefan nimmt Erik von seinen Schultern, und eine Handvoll Laub kommt hinterher, flattert in Richtung Festland davon, wie rotbraune Schmetterlinge in der leichten Brise.
»Ich gehe vor«, sagt Stefan, und gleich darauf steht er neben mir, ohne über den Spalt gesprungen zu sein, der jetzt fast einen Meter breit ist. Er scheint einfach von der anderen Seite verschwunden zu sein und sich dann neben mir materialisiert zu haben. Das schwarze Wasser kocht zwischen den Eisschollen, spritzt hoch und durchnässt uns.
»Hier«, rufe ich und strecke die Arme nach Erik aus, aber Markus schüttelt nur den Kopf.
»Nein«, sagt er. »Es ist zu weit.« Und jetzt sehe ich, dass der Spalt weiter gewachsen ist, dass mehrere Meter schwarzes schäumendes Wasser uns trennen.
»Erik«, schreie ich und spüre zugleich Stefans kalte Hand auf meiner Schulter.
Markus schreit ebenfalls, aber ich höre nicht, was er sagt.
Fünfzig Meter trennen uns, und ein Sturm zieht herauf. Die Eisscholle, auf der ich stehe, ist geschrumpft, ist kaum noch größer als ein Surfbrett und wogt hin und her auf unheilverkündende Weise. Um mich herum gibt es nur schwarzes Wasser, und Stefan setzt sich mit dem Rücken zu mir und lässt die Füße ins Wasser baumeln, ungerührt davon, was geschieht.
»Du hast dich für ihn entschieden«, höre ich Markus schreien, ehe er und Erik aus meiner Sichtweite verschwinden, zwei schwarze Punkte, die sich vor dem sich rasch entfernenden Festland abzeichnen. Sie verblassen und verschwinden hinter den Schneewehen, die durch die Bucht fegen.
Caroline Helsén schluchzt auf und nimmt sich noch ein Kleenex. Der Tisch ist schon bedeckt von weißen kleinen Papier knäueln, und ich verspüre den plötzlichen Impuls, in die Küche zu gehen, mir die dicken grünen Gummihandschuhe anzuziehen und alle verrotzten Überbleibsel unseres Gesprächs wegzuräumen.
»Ich weiß, dass Darius kein Engel ist«, sagt sie. »Natürlich ist mir klar, dass er mich im Stich gelassen und mich betrogen hat. Aber ich kenne ihn doch so verdammt gut. Und gerade deshalb kann ich verstehen, wie das möglich war. Wie jemand, der seine Schwäche erkennt, ihn leicht manipulieren konnte. Dafür gesorgt hat, dass er sich bestätigt und männlich fühlt oder was immer ihm bei mir nun gefehlt hat.« Wieder schluchzt sie los, beugt sich vor und reißt mit zitternden Händen weitere Kleenextücher an sich.
»Wenn wir jetzt über Sie reden und nicht über Darius«, sage ich vorsichtig. »Wie sieht Ihr Leben heute aus? Was ist gut und was ist schlecht?«
Caroline schaut zur Decke hoch, beißt sich in die Lippe.
»Ich nehme an, es ist okay.«
»Sie nehmen an, es ist okay?«
Sie nickt und sieht mich mit müdem Blick an.
»Aber trotzdem sitzen Sie hier, in meinem Sessel, um über diese Sache zu reden.«
»Meine Freunde meinten …«
»Vergessen Sie Ihre Freunde jetzt mal. Was meinen Sie ? Sie sind schließlich hergekommen.«
Sie nickt stumm.
»Na also. Was ist gut an Ihrer Situation, so wie sie heute aussieht,
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