Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Costa. Der Ärztin und Obduzentin. Meinst du, der Täter hatte das Recht zu dieser Tat?«
Anders strich sich die blonde Mähne hinter die Ohren, beugte sich verschwörerisch vor, senkte die breiten Schultern über den Tisch.
»Sie sind ja bislang noch nicht verurteilt, oder? Sie müssen doch den Prozess neu aufrollen, weil diese inkompetenten Schwuchteln von Geschworenen sich in Aftonbladet ausgeheult haben. Also, rein technisch wissen wir gar nicht, ob sie schuldig sind. Aber okay, angenommen, sie sind schuldig. Ich sage nicht, dass ich meine, sie hätten richtig gehandelt. Das Ganze ist doch widerlich, oder? Eine Schweinerei. Ich sage nur, dass unsere Vorstellung von Recht und Unrecht ein menschliches Konstrukt ist. Tiere töten sich doch dauernd gegenseitig. Um Nahrung zu erlangen, um sich zu ver mehren, um die Macht über ihr Revier zu behalten. Recht und Unrecht gibt es nicht. Demut, Gehorsam, Moral. Damit hat das Christentum die Massen versklavt. Aber nur die, die sich versklaven lassen, können versklavt werden.«
Schweigen.
Anette Lindell am Tisch hinter ihnen saß mit halboffenem Mund da und sah blöd aus.
»Es ist vielleicht sogar so, dass die Menschen versklavt werden wollen?«, fragte Stefan, den die Diskussion an sich eigentlich weniger interessierte als ihre Wirkung auf die Mädchen an dem anderen Tisch.
»Genau«, sagte Anders und schielte zu Anette hinüber, während er zugleich die Haare an seinem Kinn berührte. »Genau so ist es. Die Leute freuen sich, wenn man sie wie Dreck behandelt. Dann haben sie das Gefühl, dass sie dazugehören, einen Platz in der Hierarchie einnehmen. Sie bitten im Grunde darum, in den Arsch gefickt zu werden.«
Kichern am Tisch hinter ihnen.
»Soll ich das beweisen?«, fragte Anders, der jetzt unter den Sommersprossen auf den sonst so blassen Wangen rot geworden war.
»Beweisen?«
»Schau zu und lern, Steffe.«
Anders sprang mit der verschmutzten Kaffeetasse in der Hand hoch und brüllte: »Gibt es denn kein Personal in dieser Scheißklitsche?«
Es wurde ganz still im Café, sogar das Klirren aus der Küche hörte auf. Ein älterer Herr verließ eilig auf unsicheren Beinen das Lokal. Alle schauten Anders an, der mit lodernden Wangen mitten im Raum stand.
»Es ist so verdammt dreckig hier, ihr solltet euch schämen. Das hier ist ein Schweinestall, kein Café«, rief er nun laut.
Ein leises Gemurmel aus der Küche, eine Schwingtür öffnete sich, und eine kräftige Frau in weißer Schürze mit fettigen grauen Haaren und dicken fleischfarbenen Strümpfen, die locker um ihre Knöchel hingen, kam mit gesenktem Kopf näher.
»Verzeihung«, murmelte sie. »Verzeihung. Ja, es ist wirklich schmutzig hier. Ach, ach, ach.«
Sie machte einen Versuch, Stefans Kaffeetasse zu nehmen.
»Ich bin noch nicht fertig.«
Er hörte selbst, wie hart seine Stimme klang. Wie scharf und klar sie aus seiner Kehle kam, wie ein Messer. Zugleich staunte er darüber, wie leicht es war, wie vollkommen natürlich es ihm vorkam, diese ältere Frau zurechtzuweisen. Nicht ohne Beschämung registrierte er das Gefühl der Befriedigung, verboten, aber dennoch ein Genuss.
»Verzeihung«, murmelte die Frau noch einmal und fing an, das verschmutzte Tischtuch zusammenzufalten, erwischte aber nicht alle Krümel. Die rieselten nun wie Schnee auf Stefans Knie.
»Jetzt passen Sie doch auf«, murmelte er, fast gelähmt von dem Wirrwarr aus Gefühlen, die in ihm geweckt worden waren.
»Was habe ich gesagt?«, kommentierte Anders und ging auf den Ausgang zu, ohne weiteren Blick auf die Frau, die sich noch immer nervös an der Tischdecke zu schaffen machte.
Stefan stand ebenfalls auf und folgte ihm. Sein Herz hämmerte wie wild, seine Füße schienen zu schweben, die Blicke der Mädchen brannten in seinem Rücken und trugen ihn weiter.
Er fing die Verachtung und das Erstaunen der übrigen Gäste auf, registrierte alles, ließ sich davon aber nicht beeinflussen. Alle diese Gefühle waren jetzt zweitrangig. Sie trieben wie Laub an der Oberfläche der Erregung und der Euphorie, die in ihm brodelten, dem Meer von verbotenen und verlockenden Gefühlen. Jeder Quadratzentimeter seines Körpers, jede Zelle, war gefüllt von diesem seltsam berauschenden Gefühl. Die Macht über die rundliche Frau mit den zu Wülsten aufgerollten Strümpfen.
Stockholm 2010
Vijay streckt seinen Arm über den wackeligen Tisch und nimmt sich noch eine Portion von dem indischen Gericht. Aina trinkt ihren dritten Kingfisher und
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