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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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Lunge.
    Die Prüfung war bestanden.
    Von ihm, der noch nie ein Tier geschossen hatte. Von ihm, der nie Interesse an der Jagd gezeigt hatte. Und doch schoss er perfekt. Die Frage ist, warum er sich plötzlich entschloss, die Schießprüfung abzulegen und sogar auf Elchjagd zu gehen. Für mich blieb es ein Rätsel. Auch heute noch, über zwanzig Jahre danach. Er hatte doch kein Interesse an der Jagd. Er war nicht so. Er war zu sanft, zu sehr ein Träumer. Vielleicht hatte er davon geträumt, es zu tun, daran gedacht, darüber geredet. Aber doch nicht ausgeführt. Und doch tat er es. Er führte es aus. Vater wurde Jäger. Und als er einige Wochen später im Wald auf Posten saß und mit dem Gewehr auf den Knien wartete, saß ich direkt hinter ihm. Ich erinnere mich, wie ich auf seinen Rücken starrte und dachte, dort sitzt nicht mein Vater, sondern ein fremder Mann, einer, den ich nie getroffen habe; doch hätte er sich umgedreht, hätte ich natürlich sofort gewusst, dass er es war.

X
    Zwei Tage, nachdem mein Vater sich den neuen Jogginganzug gekauft hatte, fuhr ich zurück nach Oslo. Das Examen kam näher, es war Mai 1998, aber es gelang mir nicht, mich auf mein Studium zu konzentrieren. Ich konnte mich auf überhaupt nichts konzentrieren. Nach den letzten Wochen schien jeglicher Wille in mir verschwunden zu sein. Ich blieb morgens lange liegen und stand nicht auf, bis die Sonne durchs Fenster lugte. Ich zog mich an, aß, was ich an Lebensmitteln im Haus hatte, und betrat den Lesesaal nicht vor zwölf. Dort fand ich einen freien Platz, stapelte die Bücher vor mir auf und starrte auf den gleichmäßigen Verkehr, der auf der St.Olavs gate vorbeiglitt. Ich konnte nicht lesen. Ich konnte gerade mal die Bücher aufschlagen. Ich war vollständig leer. Es war erschreckend. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich war dabei, die Kontrolle zu verlieren, und doch blieb ich vollkommen ruhig. Wieso reagierte ich so? Befanden sich andere in einer ähnlichen Situation? Hatten andere daheim auch einen todkranken Vater? Bestimmt gab es viele, denen es genauso ging wie mir und die das Examen ablegen wollten. Aber sie konnten im Lesesaal sitzen und offensichtlich ganz normal leben.
    Oder etwa nicht?
    Ich vergaß Großvaters Mantel und meine neue Brille. Ich vergaß vollkommen, intellektuell zu sein. Ich vergaß alles und jeden. Plötzlich gab es nur noch mich. Ich wusste nicht, was sich hier abspielte, und doch war ich ganz ruhig. Ich saß in der Mensa und aß mit den anderen zu Mittag, genau wie immer. Ich stand in der Mensa anständig in der Reihe, bekam meinen Teller mit den drei Kartoffeln, dem Haufen geriebener Karotten und der in Sauce schwimmenden Dorschfrikadelle, ging weiter zur Kasse und bezahlte. Ich stellte mein Tablett auf den Tisch, an dem die anderen bereits saßen, goss mir Wasser ins Glas und holte Salz, Pfeffer und Servietten. Ich benahm mich genau wie immer. Ich setzte mich und aß wie immer, ich redete mit den anderen wie immer. Nur bekam ich plötzliche Lachanfälle. Jemand erzählte einen Witz oder eine lustige Geschichte, und ich fing an zu lachen, dass ich fast vom Stuhl fiel. Die anderen sahen mich an und lächelten. Ich aß einen Bissen und musste auf die Toilette, um mich zu beruhigen und wieder zu mir zu kommen. Aber abgesehen von den Lachanfällen war alles normal. Das Examen kam näher, und ich hatte mehrere Wochen keine Zeile gelesen. Die Bücher lagen zu Hause im Regal. Ich schlug sie nicht mehr auf. Und die ganze Zeit war ich ruhig, und ich entdeckte, wie leicht es mir fiel. Es war leicht, ich war ruhig, und ich hatte mich in gewisser Weise unter Kontrolle. Ich hielt mich nicht mehr im Lesesaal auf, ich lief durch die Gänge des Domus Nova mitten im Zentrum von Oslo, mitten in der Stadt, die meine werden sollte, und sah zu, wie mir alles entglitt. In den Korridoren, im Lesesaal und unten in der Mensa verbreitete sich allmählich eine hektische und nervöse Stimmung. Ich schnappte Bruchstücke von Gesprächen auf. Hin und wieder wurde ich nach etwas gefragt. Wie ist das jetzt mit dem ›mea culpa‹ im Entschädigungsrecht? Was sagt Falkanger darüber? Steht davon etwas bei Lødrup? Ja, antwortete ich ruhig. Ich war überzeugt, dass bei Lødrup etwas stand, und vielleicht auch bei Falkanger. Ich sagte, ich würde es zu Hause nachsehen. Aber wenn ich nach Hause kam, tat ich nichts. Mir war alles egal. Alle Träume. Die Ambitionen. Alles, was ich vor mir gesehen hatte. Alles, worauf ich hingearbeitet

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