Bevor ich verbrenne
oder ich würde jemandem von zu Hause treffen, obwohl das ja vollkommen ausgeschlossen war; ich begegnete auch niemandem und kam problemlos nach Hause. Dort blieb ich lange mitten im Zimmer stehen.
Am darauffolgenden Tag erschien ich exakt um 8:3 0 Uhr zum Examen. In einer großen Turnhalle im Westen der Stadt saß ich direkt an der Wand und schrieb meinen Namen und meine Studentennummer ganz deutlich. Dann gab ich das Blatt ab und ging hinaus in die Sonne. Ich schrieb einfach meinen Namen und ging. Das war alles. Ich war gerade zwanzig Jahre alt geworden, und nun sollte das Leben beginnen, das wirkliche Leben. Ich hatte alles Alte hinter mir gelassen und wollte der werden, der ich war. Und ich hatte kaltblütig, ruhig und mit glasklarem Kopf meinen Namen geschrieben und alle Blätter vollkommen blank abgeliefert. Ich ging in der warmen Morgensonne spazieren, die Vögel zwitscherten in den Hagebuttensträuchern, ich ging zur Haltestelle und hörte das gleichmäßige Brausen der Stadt; ich wartete allein auf die U-Bahn, die mich in die Innenstadt bringen sollte, mich trieb es auf die andere Seite. Wollte ich es nicht zu etwas im Leben bringen? Wollte ich nicht Anwalt werden? War ich nicht nach Oslo gekommen, um ich selbst zu werden? Doch, so war es. Und doch war es passiert. Ich saß in der U-Bahn in Richtung Zentrum, aber in Wahrheit war ich auf dem Weg in eine fremde Welt. Als die Bahn unter der Stadt verschwand, blickte ich in mein eigenes, undeutliches Spiegelbild, und als ich vor dem Nationaltheater wieder ans Tageslicht kam, spürte ich es: Jetzt bist du auf der Schattenseite des Lebens. Jetzt trägt es dich hinüber. Nun gibt es niemanden, der dir helfen kann. Jetzt bist du dort, wo du dir versprochen hast, niemals zu landen. Jetzt ist es zu spät.
Am Nachmittag rief ich meinen Vater an. Nachdem ich im Underwater Pub gesessen hatte, bis ich diese Seite von mir ein wenig besser kannte, war ich nach Hause gegangen.
»Jetzt hab ich’s hinter mir«, erklärte ich in einem munteren Tonfall, der nicht zu mir gehörte. Aber die vierhundert Kilometer, die zwischen uns lagen, retteten mich; Vater merkte nicht, dass etwas nicht in Ordnung war.
»Gratuliere«, sagte er.
»Danke.«
»Was ist das für ein Gefühl?«
»Ich weiß nicht recht«, antwortete ich.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte er, und das hätte er nie gesagt, wenn wir uns im selben Raum befunden hätten, das weiß ich. Ich erwiderte nichts.
»Jetzt hast du getan, wovon ich immer geträumt habe«, sagte er.
»Hab ich?«, fragte ich, wobei ich auf die schaukelnde Straßenlaterne blickte, genau wie am Abend zuvor.
»Ich habe immer davon geträumt, in Oslo zu studieren, als ich jung war«, sagte er.
»Ach ja?«
»Ich träumte davon, etwas zu werden, weißt du.«
»Aber du bist doch etwas geworden«, sagte ich und hörte sofort, wie falsch es klang. »Ich meine, du bist doch jemand.«
Diesmal antwortete Vater nicht. Es wurde ganz still, und ich wusste nicht, ob er noch am Telefon war. Wieder meinte ich, leise Musik zu hören, die von einem Ort kam, der ebenso weit entfernt war wie mein Vater von mir.
XI
Ich bin mit Kåre Vatneli nicht ganz bis zum Ende gekommen. Er wurde zusammen mit Vater im Herbst 1957 konfirmiert, knapp zwei Jahre vor seinem Tod.
Er wurde konfirmiert und überschritt sozusagen die Grenze: Zur Konfirmation bekam er einen langen schwarzen Mantel und einen Hut, und für ihn wie für die anderen Konfirmanden war es das endgültige Zeichen, die Welt der Kindheit nun verlassen zu haben.
Es geschah im September 1957, dem ersten Jahr, in dem die weißen Umhänge eingesetzt wurden. Mein Vater war gerade vierzehn Jahre alt geworden, Kåre fünfzehn. Nach der Konfirmation galten sie endlich als Erwachsene. Als sie in die Kirche gingen, wurden sie nach der Größe aufgestellt. Die Größten nach vorn. Dann die Mittleren, zum Schluss die Kleinsten. Und ganz vorn der Pastor. Er hieß Absalon Elias Holme, ein Name, der eines Pastors würdig war. Danach kam Kåre. Mein Vater weit hinter ihm. Zwischen den Kirchenbänken standen Großvater und Großmutter, die sich wie alle anderen erhoben hatten. Oben auf der Empore spielte Teresa auf dem Harmonium. Die Konfirmanden gingen den Mittelgang entlang und setzten sich in die Bankreihe direkt vor der Kanzel. Die Musik verstummte. Holme drehte sich um, schlug das Kreuz, und der Gottesdienst konnte beginnen.
Es stellte sich heraus, dass sich außer Aasta auch noch andere Menschen an Kåre Vatneli
Weitere Kostenlose Bücher