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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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klingelte.
    »Ich bin’s nur«, meldete sich mein Vater. So begannen alle unsere Telefonate. Entweder sagte er es, oder ich sagte es. Ich bin’s nur.
    Und dann kam es.
    Er habe sich in letzter Zeit nicht wohl gefühlt, erzählte er. Er sei bei einem Arzt in Nodeland gewesen, der ein paar Proben genommen hatte. Daraufhin hatte der Arzt ihn ins Krankenhaus von Kristiansand zu einer Röntgenuntersuchung überwiesen. Wie sich herausstellte, waren seine Lungen voller Flüssigkeit. In aller Eile wurde er in die Notaufnahme gebracht, in einem anderen Raum hatte man ihn dann auf die Seite gelegt und eine Kanüle in den Rücken gestochen. So wurde erst der eine, dann der andere Lungenflügel entleert. Er hatte dagelegen und zugesehen, wie die durchsichtigen Tüten sich langsam mit etwas füllten, das aussah wie Blut, nur heller und vermischt mit winzigen weißen Partikeln. Am Ende hatte man ihm viereinhalb Liter abgezapft.
    Seine Stimme klang wie immer. Ruhig. Es war mein Vater. Nachdem er alles erzählt hatte, erkundigte er sich nach dem Wetter in Oslo an diesem Abend. Ich fühlte mich eigenartig und ein wenig benommen, ich musste ans Fenster gehen, die Gardine zur Seite ziehen und hinausschauen.
    »Ich glaube, es schneit«, sagte ich.
    »Hier ist es sternenklar«, erwiderte er.
    »Ah ja.«
    »Und kalt«, fügte er hinzu. »Kalt und sternenklar.«
    Das war alles. Das war der Anfang.
    Ein Schatten wurde auf einer seiner Nieren entdeckt, der rechten. Im April, das Eis war geschmolzen. Ich war zwanzig Jahre alt geworden. Dann wurde ihm noch einmal fast ein Liter Flüssigkeit entnommen. Ich begriff nicht, wie die Atmung noch funktionieren konnte, wenn man literweise Wasser in den Lungen hat; er verstand es auch nicht, und die Ärzte schon gar nicht. Aber bei ihm funktionierte es.
    Er rief mich aus dem Krankenhaus an. Es war gegen Abend, aber noch immer hell. Ein heller, milder Aprilabend, mit einer diesigen, beinahe schmutzigen Luft.
    »Ich bin’s nur«, sagte er.
    Dann redeten wir vielleicht fünf Minuten. Ein leises, ruhiges Gespräch über so gut wie nichts.
    »Du machst bald dein Examen, oder?«, erkundigte er sich.
    »Ja, bald.«
    »Und lernst du?«
    Im Hintergrund hörte ich leise Musik. Als würde sie von ganz weit her in den Telefonhörer tröpfeln. Ganz leise Musik.
    »Wie ist das Wetter?«, fragte ich und hörte sofort, dass es sich um seine Frage handelte, nicht um meine, und obwohl er beinahe vierhundert Kilometer entfernt war, spürte ich, wie ich rot wurde.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er in unverändertem Tonfall. »Ich kann nicht aufstehen. Es gibt hier zu viele Schläuche und anderes Gerät. Und in Oslo?«
    »Hier ist es Frühling.«
    »Ja«, sagte er. »Ich glaube, hier auch.«
    Ende April fuhr ich zu Besuch nach Hause. Er war nach Kleveland zurückgekehrt. Als ich ihn sah, erschrak ich über die Größe seiner Augen. Er lag unter einer Decke auf dem Sofa und sah mich mit diesen neuen großen Augen an, und es dauerte den ganzen Abend und einen Großteil des nächsten Tages, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Als könnten diese Augen durch alles hindurchsehen und verständen gleichzeitig nichts von dem, was sie sahen.
    Einige Tage später fuhr ich ihn zur Kontrolle ins Krankenhaus. Die Fahrt dauerte vierzig Minuten, kam mir aber wesentlich länger vor. Wir fuhren durch unsere Gemeinde: vorbei an der Schule von Lauvslandsmoen, die wir beide im Abstand von dreißig Jahren besucht hatten, vorbei am Herrenhaus von Brandsvoll und durch Kilen; das Wasser des Livannet glitzerte und kräuselte sich, nur nicht am Ufer, da war es schwarz und ruhig. Es herrschte eine seltsam gedrückte Stimmung im Aut o – als wären wir beide auf einer langen Reise gewesen, jeder an einem anderen Ende der Welt, und hätten uns so viel zu erzählen, dass keiner wusste, wo er anfangen sollte. Daher ließen wir es. Nach einer langen Zeit näherten wir uns der Küste, im Westen der Stadt konnten wir die ganze Bucht übersehen. Das Meer war grau und leblos. Keine Schiffe. Ich wusste nicht, woran es mich erinnerte.
    An Asche?
    Vor dem Krankenhauseingang standen die Raucher. Sie trugen Jogginganzüge von Adidas oder Nike, und alle hatte der Krebs zerfressen. Dennoch hatten sie es auf die eine oder andere Weise geschafft, an die frische Luft zu kommen. Sie umklammerten ihre Zigaretten, als könnte jeden Moment jemand kommen und sie ihnen wegschnappen. Als wir hineingingen, sahen sie uns mit großen, ängstlichen Augen an, und ich roch

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