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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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erinnern konnten. Einige Zeit später besuchte ich drei seiner Kameraden aus der Kindheit. Es war im November, zu Hause bei Otto Øvland. Mir war nicht klar, dass er und mein Vater am selben Tag getauft worden waren, mit dem gleichen Wasser. Otto erzählte es sofort, als wäre es wichtig, dies endlich einmal gesagt zu haben.
    Otto hatte an diesem Abend in dem geheizten Haus in Øvland noch Tom und Willy Utsogn zu Gast. Otto und Willy hatten Kåre damals 1959 im Krankenhaus von Kristiansand besucht. Tom, der ein bisschen jünger war, erinnerte sich an das Auto, mit dem Kåres Sarg nach Hause gebracht wurde. An den Sarg konnte er sich nicht mehr erinnern, aber an den Wagen. Das Auto hatte einen stärkeren Eindruck hinterlassen. Und dass Kåre tot darin lag.
    Alle drei konnten im Übrigen bestätigen, was ich bereits über Kåre wusste: seine Sorglosigkeit, diese unbegreifliche Heiterkeit. Wieso hatten all seine Bekannten und Verwandten die Krankheit und die Amputation so sehr beschäftigt, und ihn nicht? Wie hatte er es geschafft, sich seine gute Laune zu bewahren, wenn Johanna und Olav unter der Last des Schicksals schier zusammenbrachen? Es gab keine Erklärung. Kåres Leben war rätselhaft für mich, unverständlich. Es war ohne Worte, nahezu ausgelöscht. Aber in gewisser Weise auch tapfer. Wie ein Lachen im Angesicht des Todes. Oder ein Liebeslied. Sein Leben war ein Liebeslied gewesen, und das Einzige, was man davon fünfzig Jahre später noch verstand, war das Wort darling .
    Außerdem wurde mir die Geschichte von dem Moped erzählt:
    Die hatte sich ereignet, als sie zum Pastor in den Konfirmationsunterricht gingen. Normalerweise fuhren alle mit dem Rad zu Kirche. Sie ließen sich immer viel Zeit, und wenn sie kamen, stand gemeinhin die Kirchentür offen. Ich erinnerte mich, dass Vater eine Geschichte erzählt hatte, von der ich nicht wusste, ob sie wahr war, aber sie handelte jedenfalls davon, dass sie einmal vor dem Konfirmationsunterricht die Fahrräder die Kirchentreppe hinaufgetragen hatten und in der Kirche Fahrrad gefahren waren. Otto lachte und bestätigte die Geschichte. Aber damit nicht genug, sagte er. Einer fuhr mit dem Moped in die Kirche. Mit dem Moped ? Ja, sicher. In der Kirche ? Ja, sicher. Bestimmt. Und wer war das ? Ja, das war Kåre. Der fröhliche, leichtsinnige Kåre war mit seinem Moped in der Kirche herumgefahren. Er fuhr Moped, weil er mit nur einem Bein nicht das Fahrrad nehmen konnte, jedenfalls nicht den ganzen Weg. Er hatte Laufen gelernt, dann Fahrrad und danach Moped fahren. Eigentlich war er ja noch zu jung, aber der Bezirksobmann hatte ihm wegen des Beins eine Sondererlaubnis erteilt. Er lernte also Moped fahren, und schließlich, als einer der ganz wenigen, brachte er sich bei, wie man mit dem Moped in einer Kirche fährt. Der Mittelgang ist ja recht schmal. Es war gar nicht so leicht, die Balance zu halten. Die anderen hatten fassungslos zugesehen. Kåre hatte eine unsichtbare Grenze überschritten, die anderen hielten den Atem an. Erst fuhr er den ganzen Mittelgang hinauf, dann drehte er kurz vor dem Altar, fuhr in beide Seitenflügel und zurück zum Altar. Das Kirchenschiff füllte sich langsam mit Mopedabgasen, die sich mit seinem hellen und unbeschwerten Lachen vermischten. Dann tauchte Holme plötzlich auf, er kam hinter der Altartafel hervor, mit einem kreideweißen Gesicht, aber dennoch beherrscht. Man wird nicht wütend über einen Fünfzehnjährigen mit nur einem Bein. Selbst wenn er eine Grenze überschritten hat.
    Es war nur einer seiner vielen Einfälle gewesen, aber niemals wurde über Kåres Krankheit geredet. Und niemand sprach irgendwann einmal den Namen dieser Krankheit laut aus. Es war verboten, der Name war das Schlimmste, als könnte es ansteckend sein, wenn er genannt wurde. Kåre selbst schien nicht sonderlich darunter zu leiden. Das Bein hatte man ihm abgenommen. Aber für ihn ging es weiter. Offensichtlich gehörte mehr dazu, um ihm die Laune zu verderben. Er hatte doch sogar eine Fahrerlaubnis vom Bezirksobmann persönlich erhalten.
    Noch wenige Tage, bevor er zum letzten Mal ins Krankenhaus eingeliefert wurde, sprach er davon, dass er wahrscheinlich ein Auto bekäme, wenn er nach Hause zurückkehrte. Das Auto würde im Hof stehen und auf ihn warten, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Vermutlich handelte es sich um einen Triumph Herald oder einen Chevrolet Impala, vielleicht aber auch einen schwarzen Buick. Eines von diesen dreien.

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