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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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Höchstwahrscheinlich. Olav hatte auf seiner Bettkante gesessen und es ihm erzählt. Sie hatten es vor sich gesehen, glänzend und schimmernd, wie es auf dem Hof zwischen dem Wohnhaus und der Scheune stand. Kåre hatte sich hinters Steuer gesetzt und den Motor angelassen, Olav setzte sich auf den Beifahrersitz. Und dann waren sie davongefahren.
    Willy hatte ihn zuletzt besucht. Am Tag vor seinem Tod. Willy war erst fünfzehn Jahre alt und fuhr eigens nach Kristiansand, um ihn zu sehen. Der Besuch dauerte vielleicht eine halbe Stunde. Sie wechselten kein Wort. Kåre lag abgemagert unter einer weißen Decke. Er war kaum wiederzuerkennen, nur der Brustkasten hob sich unter dem glatten, weißen Laken und ähnelte einem schneebedeckten Stein. Und der Kopf. Und die Augen. Als würde er schweben. Sie redeten nicht. Nicht über Autos. Sie sahen sich nur an. Das war alles. Johanna war bei ihnen. Willy erinnerte sich, dass Johanna und er sich unterhielten, aber er erinnerte sich nicht mehr, worüber sie sprachen. Vermutlich über ganz alltägliche Dinge. Das Wetter. Die Busfahrt in die Stadt. Nichts, woran man sich fünfzig Jahre später noch erinnert.
    Johanna war ruhig gewesen. Ganz ruhig.
    Dann starb Kåre, und der unbegreiflich fröhliche und strahlende Junge war fort.
    Kurz bevor ich gehen wollte, fingen Tom und Willy an, von Vater zu erzählen. Wie sich herausstellte, hatten sie ihn beide gekannt, und irgendetwas passierte mit ihnen, als wir über ihn sprachen. Ich weiß nicht, ob es aus Rücksicht zu mir geschah, aber sie redeten über ihn auf eine liebevolle, wenn auch vorsichtig abwartende Art. Sie erzählten von seinen Skisprüngen, für die er offenbar weithin bekannt war.
    »Niemand sprang so wie dein Vater«, sagte Tom, und ich verstand, dass ich es als ein ganz besonderes Kompliment nehmen sollte. Sie erzählten, dass er Dinge tat, die andere niemals gewagt oder geschafft hätten. Sobald er sich oben auf der Schanze abgestoßen hatte, beugte er sich gefährlich weit vor. Es war unheimlich, unten zu stehen und zuzusehen; fast schienen die Skispitzen die Mütze mit den Teufelshörnchen zu berühren, so flach lag er da und erwartete den Absprung, und dann schwebte er weiter als jeder andere. Er hatte den Slottebakken und den Stubrokka in Grund und Boden gesprungen, erzählten sie, und er hatte noch mehr Hügel bezwungen. Sie zählten sie auf, ich habe vergessen, wie sie hießen. Sie wollten mir das erzählen, es schien ihnen wichtig zu sein, mir zu erklären, dass mein Vater ein wirklich makelloser Skispringer war. Dass niemand weiter sprang als er und dass sein Geheimnis diese seltene Kombination aus Kühnheit, Mut und einer Art Draufgängertum gewesen sein musste. Und dass alles zusammen ihn weiter fliegen ließ als andere.
    Oder gab es vielleicht doch noch etwas anderes?
    Etwas, das sie nicht erzählten, etwas, das sie sich dachten, aber nicht aussprachen. Dass mein Vater mit diesen Schanzensprüngen im Grunde auch eine Grenze überschritten hatte. Dass es ebenso gut auch hätte schief gehen können. Fürchterlich schief. Dass es eigentlich pures Glück war, wenn er jedes Mal unbeschadet landete. Dass sie damals etwas nicht verstanden: Wieso tat er das, was war so wichtig an diesen Sprüngen? Dass alle unten standen, wenn er allein mit den Skiern über der Schulter das Gerüst hochkletterte, immer höher hinauf in die Dunkelheit, bis er auf dem obersten Absatz der Schanze stehen blieb und seine Ski anschnallte. Dass ihn niemand wirklich begriff, wenn er sich hinauswarf und in die Hocke ging, während die Geschwindigkeit sich steigerte und der Schanzentisch sich näherte, wenn er sich abstieß und vornüber in den Wind legte und der Lärm und die Kälte ihm ins Gesicht schlugen.
    Nach dem Besuch setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Westen, in Richtung Hønemyr. Ich hatte das Gefühl, neben mir zu stehen, das Gespräch über meinen Vater hatte dazu geführt. Als würde ich mich von außen betrachten. Nicht ich fuhr in der Dunkelheit, sondern derjenige, der einmal hier gewohnt hat, der geblieben war, als ich fortzog, der ich vielleicht eigentlich sein wollte, aber niemals werden konnte.
    Ich kam zu der Kreuzung, wo die Straße sich dreiteilte, bog nach Brandsvoll ab und fuhr an der Kaserne und dem aufgegebenen Schießstand vorbei nach Skinnsnes. Während der Fahrt erinnerte ich mich an die Sommerwochen 1998, als ich mit Vaters Auto herumfuhr, immer wieder anhielt und zu schreiben versuchte. All dies schien jetzt

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