Bevor ich verbrenne
vorbei; in dem gewaltigen Lärm sah es so aus, als könnte er jederzeit zusammenbrechen und zu Staub zerfallen. Als es wieder ruhig war, drehte er sich um und schlurfte zurück zum Bett, dort griff er mit Fingern, die wunden Klauen glichen, nach einem Stückchen Schokolade. Seine Finger zitterten, und etliche Schokoladenkugeln fielen aus der Schale auf den Boden und rollten nach allen Seiten. Ich ging auf die Knie, um sie aufzuheben, einige lagen unter dem Tisch, andere mitten im Zimmer, die letzte unter dem Bett direkt neben dem Glasbehälter, der mich an eine Art Weinkaraffe mit abgeknicktem Hals erinnert e – halbvoll mit dunklem Uri n –, daneben lag die Schokoladenkugel und sah aus wie der Kopf eines winzigen Seehunds, der aus dem Meer guckt.
»Ich dachte, wir könnten einen kleinen Ausflug mit dem Auto unternehmen«, sagte ich, als ich alle Kugeln aufgesammelt hatte.
»Einen Ausflug mit dem Wagen, ja«, sagte er.
»In deinem Wagen«, fügte ich hinzu.
Er nickte, und ich sagte nichts mehr, da ich spürte, dass mir die Stimme versagte, und das wollte doch keiner von uns beiden.
Ich schob Vater im Rollstuhl, der wie gewöhnlich in einer Ecke des Zimmers gestanden hatte und mit einem einfachen Mechanismus zusammengefaltet und aufgestellt werden konnte. Ich schob ihn langsam und vorsichtig über den glänzenden Fußbodenbelag des Altenheimflurs, auf der kurzen Strecke von seinem Zimmer bis zu den Ausgangstüren waren wir allein. Ich hatte das Gefühl, so gut wie nichts zu schieben, Vater glitt gleichsam von selbst dahin, obwohl er schwerfällig und zusammengesunken in seinem Rollstuhl saß. Er schwebte vor mir, und ich schwebte hinter ihm, und genau dort, ein Stück von der Tür entfernt, gab ich dem Stuhl einen vorsichtigen Stoß und ließ die Griffe los. Vater segelte davon, ein paar Meter vielleicht, ohne zu merken, dass ich ihn nicht hielt. Er trug die Winterjacke mit dem Logo der Olympiade in Lillehammer auf dem Ärmel und der Brust. Die Jacke hing wie ein Sack über den dünnen Schultern, und jedes Mal, wenn er sich bewegte, raschelte sie wie Zeitungspapier. Er hatte sie gekauft, weil er nach Lillehammer fahren wollte. Gern hätte er sich die Sprünge auf der großen Schanze angesehen. Nichts anderes. Weil er in seiner Jugend zu Hause vor der alten Schanze am Slottebakken gesessen hatte, die als zu gefährlich galt, weil man von ihr weit hinunter springen konnte, beinahe bis in den Auslauf, wenn einen der Wind erfasste. Die Springer flogen ganz einfach zu weit, deshalb wurde sie 1960 abgerissen, sechs Jahre, nachdem Kåre Vatneli gestürzt und sein Bein zersplittert war; ein Jahr später war er tot. Aber drei Jahre, bevor die neue Schanze am Stubrokka gebaut wurde, kletterte Vater das Gerüst hinauf und stieß sich mit einer Todesverachtung ab, die niemand verstand und von der ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts wusste. Am liebsten wollte er bei der Olympiade die Sprünge von der großen Schanze sehen, aber dann kam etwas dazwischen, und er konnte damals nicht nach Lillehammer fahren. Zumindest hatte er die Jacke der Olympiade, und als er später die Fernsehbilder von Espen Bredesen sah, der wie in Zeitlupe über den Schanzentisch glitt und sich gerade in die Luft legte, als er das Menschenmeer und all die Fahnen sah und unten am Auslauf das Brüllen hörte, hatte Vater fast das Gefühl, doch dabei gewesen zu sein.
Ich klappte den Rollstuhl zusammen und legte ihn auf die leere Ladefläche des Pick-ups, während Vater sich auf den Beifahrersitz setzte.
»Erst müssen wir in den Laden«, sagte er. »Ich muss bis sechs Uhr abgegeben haben.« Erst jetzt sah ich, dass er zwei Lottoscheine in der Hand hielt.
»Spielst du noch immer Lotto?«
»Diesmal weiß ich, dass meine Zahlen kommen«, antwortete er, ohne mich anzusehen. »Jetzt oder nie«, fügte er hinzu, und wir hörten beide, wie unheimlich es klang.
Ich hielt vor dem Laden am Kreisel, ging hinein und lieferte die beiden Scheine ab, während er im Auto wartete. Ich sah all die zittrigen Kreuze, wie sie gleichsam ein Muster bildeten, das ich nicht verstand, das aber dennoch einfach war. Sieben Zahlen, die er sich sehr genau überlegt hatte, wie ich wusste, denn Vater hatte Lotto gespielt, solange ich denken konnte, er hatte sich sogar Handbücher mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen besorgt. Ich hielt die beiden Coupons in der Hand und erinnerte mich, dass ich mir Sorgen gemacht hatte, als ich von den Büchern hörte; ich hatte den naiven Glauben
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