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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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Leute mich an. Sie kannten ja den Wagen, niemand sonst in der Gegend fuhr einen roten Pick-up, und möglicherweise dachten sie, es wäre mein Vater; doch wenn sie die Hand hoben, um zu grüßen, sahen sie, dass er es nicht war. Dennoch grüßten sie. Und ich grüßte zurück. Ich fuhr am ehemaligen Bethaus von Brandsvoll vorbei, das jetzt als eine Art Scheune diente, und überlegte, wo die flaschengrüne Kanzel wohl geblieben war, und das Bild des Mannes mit der Hacke, über dem ein Engel des Herrn schwebt. Der Engel, der auch über uns schwebte, wenn wir darunter standen und sangen. Ich fuhr am Herrenhaus vorbei, das kaum noch benutzt wurd e – nur hin und wieder für Bridge-Abende, eine Versammlung des Bauernverbandes oder der muttersprachlichen Vereinigung, das war alles. Ich fuhr über die Fjeldsgårdebene bis zu dem neuen Bethaus, das Mitte der Neunziger von freiwilligen Helfern gebaut wurde, und kam an der Bank vorbei, auf der ich zehn Jahre später sitzen und diesen Text schreiben sollte. Ich erreichte den alten Laden von Kaddeberg, der längst geschlossen war, und plötzlich erinnerte ich mich an Kaddeberg in seinem blauen Kittel, mit der Hornbrille und dem Bleistiftstummel hinter dem Ohr, wie er irgendetwas Gutmütiges hinter der Kasse murmelte. Ich erinnerte mich an all die Male, an denen ich mit Vater auf dem abgetretenen Boden vor der Kasse stand und plötzlich ein Stückchen Schokolade in der Hand hatte, ein Hobby oder Stratos, oder eine der kleinen Kaugummikugeln, deren Einwickelpapier so gut roch. Mein ganzes Wesen muss gestrahlt haben, denn ich entsinne mich, dass Kaddeberg immer seine Brille abnahm und sie lange an seiner Hemdbrust rieb. Alles kam wieder zu mir zurück. Die ganze Kindheit, die ganze Landschaft, die Wälder, die Seen, der Himmel, alles, was lange fort gewesen war, alles lag ja dort, gebadet in der milden Septembersonne. Das neue Leben in Oslo war mit einem Mal so fern. Den Mantel meines Großvaters hatte ich in meiner Studentenbude liegen lassen, ebenso wie die neue Brille. Ich brauchte nichts davon, beides schien mit einem Mal vollkommen deplatziert. Ich schaltete herunter, fuhr langsam über die Anhöhe und sah den Livannet unter mir, wie das Wasser in einem Windstoß glitzerte, der von Ost nach West strich.
    Ich war früh dran, bog links ab und parkte nur wenige Schritte vom Springbrunnen entfernt. Ich ging durch den Korridor des Altenheims und roch sofort den Geruch nach Kaffee, alten Kleidern und Pisse, hörte Fernsehgeräusche aus den Zimmern, Gelächter und gemeinsamen Gesang, der von einem Ort irgendwo tief unter der Erde zu kommen schien.
    Vater ging es so gut wie lange nicht mehr, er saß in seinem roten Jogginganzug auf der Bettkante und ließ die Beine baumeln, als ich die Tür öffnete.
    »Da bist du ja«, sagte er munter.
    »Ich hoffe, ich komme nicht zu früh?«
    »Zu früh, nein«, erwiderte er. »Hab doch nichts anderes zu tun, als auf dich zu warten.«
    Wir wussten beide, dass dieser brüske und saloppe Ton nicht zu ihm passte, und taten so, als hätten wir es überhört. Ich hatte ihm eine Tüte mit Schokoladenkugeln mitgebracht, von denen ich wusste, dass er sie mochte, jedenfalls früher. Ich leerte die Tüte in die Schale, die ich beim letzten Mal gefüllt hatte und die noch immer halbvoll war.
    »Geht es dir gut?«, erkundigte ich mich.
    »Mir geht es gut«, antwortete er.
    »Soll ich die Schuhe ausziehen?«
    »Nein«, antwortete er in demselben barschen Tonfall wie zuvor. »Ich muss hier doch nicht sauber machen.«
    Wir lachten, und ich hatte das Gefühl, den Ton, den er sich zugelegt hatte, erwidern zu müssen.
    »Hier kannst du nicht länger bleiben«, erklärte ich. »Du musst dir langsam mal was Dauerhaftes suchen.«
    Er lächelte, aber er lachte nicht, so wie ich gehofft hatte, er ließ sich vom Bett gleiten und steckte die Füße in die Pantoffeln, mit denen er auch zu Hause herumschlurfte. Als er stand, bemerkte ich, wie dünn er geworden war; den Jogginganzug hatte er fest um die Taille geschnürt, und die Uhr schlenkerte an seinem Handgelenk. Es sah aus, als wären es weder sein Jogginganzug noch seine Uhr, sondern etwas, das er gestohlen, das er sich hastig gegriffen hatte und das, wie sich jetzt zeigte, nicht passte. Unsicher trat er ans halb offene Fenster, dort blieb er stehen, stützte sich auf das Fensterbrett und sah hinaus. Der Bahndamm lag nur fünfzig Meter vom Fenster entfernt, und als er dort stand, fuhr dröhnend ein langer Güterzug

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