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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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bedauert, dass er damit gewinnen könnte oder die Zahlen fallen würden, wie er sagte. Und nun stand ich allen Ernstes da und bezahlte für seine letzten beiden Tippscheine.
    »Jetzt oder nie«, sagte ich zu dem Mann hinter der Kasse.
    »Das sagen sie alle«, erwiderte er lächelnd.
    »Wohin wollen wir fahren?«, fragte ich, als ich zum Wagen zurückkam.
    »Das entscheidest du«, antwortete er.
    »In die Stadt?«
    »In die Stadt«, antwortete er.
    Er war zu einer Art irritierendem Echo geworden, und ich sagte längere Zeit nichts mehr. Ich fühlte mich leer, als würde ich neben mir stehen, wir fuhren los, bogen links ab auf die E 18 und näherten uns rasch Kristiansand; der Rollstuhl polterte und rutschte auf der Ladefläche hin und her. Wir fuhren am glitzernden Farvannet entlang und kamen zu der Stelle, wo der Schauspieler, der in der Serie Stompa den Sørlandet gesprochen hat, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Vater hatte es mal vor langer Zeit erwähnt, als wir dort vorbeifuhren. Seitdem erinnerte ich mich daran, nicht nur, weil ich am Samstag in der Kinderstunde sehr gern Stompa hörte, sondern weil ich auch das Gefühl hatte, dass die ganze Stompa -Serie mit dem verwirrten Lehrer Tørrdal, dem besonnenen Lehrer Brandt und der lustigen Musik ein wenig von der sorgenfreien Kindheit meines Vaters widerspiegelte.
    »Ich dachte, wir sehen uns mal den Hafen an«, sagte ich, als wir den Vestervei entlangfuhren. Er antwortete nicht, und ich wertete es als Zustimmung. Ich bog rechts ab unter die hohe Brücke und parkte direkt unterhalb des Denkmals von Vilhelm Krag. Ich schob den Rollstuhl den kleinen Hügel hinauf, und schon bald saßen wir direkt vor Krag und schauten auf den Stadtfjord, den Meeresarm Vestergapet und den Leuchtturm von Oksøy, der schwarz und ruhig weit draußen im Meer stand. Wir redeten nicht sehr viel, eigentlich erinnere ich mich nicht, ob wir überhaupt sprachen. Wir saßen einfach nur nebeneinander. Er im Rollstuhl, ich auf einer Bank, und hinter uns der große bronzene Riese Krag, der ebenfalls aufs Meer starrte, so wie er es mein ganzes Leben und schon lange davor getan hatte. Die Sonne wärmte Gesicht und Oberkörper. Mein Vater hielt die Hände auf den Schenkeln gefalte t – so hatte ich ihn vorher nie sitzen sehen, als wäre er alt und erschöpft und nicht erst fünfundfünfzig. Er saß einfach nur ruhig und gelassen da und schaute auf die trägen Septemberfliegen, die den Saft aus ein paar halb verfaulten Apfelkrotzen saugten. Er saß einfach nur da, und ich saß einfach nur da, und es herrschte eine vollkommene Ruhe, obwohl die E 18 zwanzig Meter hinter uns verlief und der ganze Hafen und die Fahrrinne vor uns lagen. Alles war ruhig, und wir saßen nur da, während die Boote weiße Kühlwasserstreifen auf dem Fjord zeichneten, lange, anfangs noch scharfe Bänder, die langsam breiter wurden und schließlich verschwanden; wir saßen einfach nur da, während der Zug aus Stavanger mit fünfzehnminütiger Verspätung in den Bahnhof rumpelte; wir saßen einfach nur da und schauten auf die Amseln, die mit Augen aus Diamanten regungslos in den Hagebuttensträuchern warteten und uns beobachteten.
    »Du hast nicht erzählt, wie das Examen gelaufen ist«, sagte er plötzlich. Augenblicklich gefror mein Blut in den Adern, und ich leckte mir die Lippen.
    »Ging ganz gut«, antwortete ich ein wenig abwesend.
    »Und was hast du bekommen?«, wollte er wissen und sah mich zum ersten Mal an, seit wir das Pflegeheim verlassen hatten.
    »Was ich bekommen habe?«
    »Ja.«
    »Du meinst die Note?«
    »Ja.«
    »Summa cum laude«, sagte ich.
    »Summa cum laude?«
    »Ja.«
    »Wieso hast du das nicht vorher gesagt?«
    »Ich weiß nicht«, antwortete ich.
    »Meine Herren, summa cum laude«, wiederholte er und starrte über das Wasser. Ich erwiderte nichts, auch ich sah einfach nur hinaus.
    »Nun habe ich meine Ruhe«, sagte er, »denn jetzt weiß ich, dass du auf dem rechten Weg bist.« Und ich spürte, dass ich lachen musste, ob ich wollte oder nicht. Unvermittelt stand ich auf und erklärte im Umdrehen, dass ich meine Brieftasche im Auto vergessen hätte. Mit hastigen Schritten ging ich den Weg hinunter, wobei ich versuchte, die Hickser loszuwerden, die mir aus dem Magen aufstiegen. Ich blieb am Auto stehen und beugte mich über die warme Motorhaube, bis ich mich wieder beruhigt hatte, dann ging ich zurück zu ihm.
    In diesem Moment entschied ich mich. Oder etwas in mir entschied sich. Und ich

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