Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
Zauberers, der endlich zum Höhepunkt des Abends gekommen war, reichte er den Zettel über den Tisch.
»Weil wir gerade eine Nachricht vom Kriminaltechnischen Center bekommen haben«, verkündete er. »Sie haben die Spuren einer dritten Person am Tatort gefunden!«
*
»Ach hallo, Mama, ich wollte dich auch gerade anrufen.«
Linnea verkniff sich einen Seufzer und stand auf. Die Arbeit in der Abteilung für Forensische Anthropologie war oft kleinteilig und erforderte eine Geduld, die sie nur im Zusammenhang mit ihrem Job besaß – und nur wenn es um totes Gewebe ging. Trotzdem bot die Zusammenarbeit mit den Archäologen eine willkommene Gelegenheit, sich über den neusten Forschungsstand zu informieren. Wenn sie einen Skelettfund aus der Steinzeit beurteilen sollte, verwendete sie exakt dieselben Methoden, wie wenn sie der Polizei bei einem neuen Leichenfund assistierte.
Als Linnea gerade die letzten Informationen in das Formular auf dem Bildschirm eingetragen hatte und auf »Senden« klicken wollte, wurde sie von dem nervigen Klingelton ihres Handys unterbrochen. Ihr erster Impuls war, den Anruf zu ignorieren – was sie noch vor einem halben Jahr zweifellos getan hätte. Nach den dramatischen Ereignissen des letzten Sommers hatte sie Thor allerdings versprochen, immer ans Telefon zu gehen. Eigentlich fand Linnea nicht, dass diese übertriebene Fürsorglichkeit gut zu ihm passte, aber sie bemühte sich, es niedlich zu finden und seinem Wunsch nachzukommen. Man musste seine Kämpfe wählen. Also hatte sie das Handy widerwillig aus ihrer Tasche gezogen. Doch als sie sah, wer da anrief, verspürte sie erneut den Drang, das Telefonat zu verschieben.
»Wie geht’s dir, Mama, konntest du ein bisschen schlafen?«
Linnea war allein im Labor, schlüpfte aber trotzdem durch die Tür und schaute sich im leeren Gang um. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich auf den blauen Linoleumboden hinuntergleiten. Man konnte ja nie ahnen, wie lange ein solches Gespräch dauerte. Die Stimme der Mutter klang verzweifelt, und Linnea war aufgefallen, dass sich ihr schwedischer Akzent in den letzten Monaten verstärkt hatte. Dabei war die Botschaftergattin Lena-Maria Kirkegaard sonst immer so stolz darauf gewesen, dass nur die wenigsten Dänen hörten, woher sie eigentlich kam.
»Linnea, meine Kleine, du musst deinem Vater sagen, dass er nach Hause kommen soll. Auf mich will er ja nicht hören, heute hat er sich einfach umgedreht, als er mich sah!«
»Aber Mama, darüber haben wir doch schon gesprochen, als du mich heute Nacht angerufen hast. Erinnerst du dich denn gar nicht daran?«
»Man stelle sich das mal vor, wir waren vierzig Jahre verheiratet, und dann ignoriert er mich einfach. Läuft vor mir davon – und dann hatte er auch noch sie dabei!«
»Wen meinst du?«
»Na, diese französische Schlampe, von der er anscheinend nicht genug kriegen kann!«
Ihre Mutter senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern.
»Manchmal denke ich, dass er damals nur deshalb hierherziehen wollte. Um in ihrer Nähe zu sein.«
Ihre Stimme war tränenerstickt, und Linnea kämpfte mit ihrer eigenen Ungeduld. Sie konnte nicht durchschauen, ob die Verwirrung der Mutter damit zusammenhing, dass sie schon das erste Glas Weißwein des Tages geleert, oder ob sie nun völlig die Kontrolle über die Dinge verloren hatte. Aber eigentlich klang sie nicht betrunken und hatte es im Grunde auch nicht getan, als sie Linnea um halb vier Uhr morgens anrief, um ihre Tochter zu fragen, wann diese zum letzten Mal mit ihrem Vater gesprochen hatte. Die Mutter hatte sich entschieden, im ehelichen Haus in Évreux zu bleiben, auf einer alten Apfelplantage in der Normandie, die die Eltern erworben hatten, nachdem der Herr Botschafter in Rente gegangen war. Linnea und ihre Mutter hatten nie ein besonders enges Verhältnis gehabt, so dass es Linnea gerade recht kam, sie auf Abstand zu haben. Jetzt aber wurde es allmählich zum Problem, dass die Mutter allein in der Normandie lebte. In den letzten Monaten waren ihre Anrufe häufiger und ihre Botschaften immer verwirrender geworden, und obwohl es Linnea wirklich widerstrebte, sich um eine Mutter zu kümmern, die nie ein besonderes Interesse daran gehabt hatte, sich um ihre Tochter zu kümmern, gab es nun mal niemanden sonst, der ihr das abnehmen konnte. Linnea hatte sich nie aufraffen können, die Einladungen der Eltern anzunehmen und ihr neues Zuhause zu besichtigen. Denn so wie sie die beiden
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