Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
einem Fernsehbildschirm sah sie bereits die Lauftexte über eine Explosion in Altona. Einige St.-Pauli-Anhänger hatten sie verwundert angestarrt, als sie ihre Tasche durchwühlte, um das Beweismaterial zu finden. Ein strenger Blick brachte die Fans jedoch dazu, sich wieder ihrem Döner und ihrer Currywurst zu widmen, während sie Adèles Taschentuch in eine Tüte steckte.
Sie fühlte sich so, als hätte eine andere Person an ihrer Stelle gehandelt. Als wäre nichts passiert. Oder als hätte sie nur gehandelt, um nicht in diese Lähmung zu geraten. Linnea hatte an dem schmuddeligen Tisch gestanden und nicht darüber nachgedacht, was passiert war. Nicht auf die Signale ihres Körpers gehört, sondern nüchtern an die nächsten Schritte gedacht und ihre Möglichkeiten abgewogen. Sie hatte keine Lust, allzu viele Fragen zu beantworten, und wollte die DNA -Analyse des Taschentuchs deshalb an einem Institut vornehmen lassen, das auch private Aufträge bearbeitete. Sie wusste, dass das Institut für Rechtsmedizin in Köln und das Rättsmedicinalverket in Linköping Tests für jeden durchführten, der dafür zu zahlen bereit war. Das Institut für Forensische Genetik in Kopenhagen führte dagegen nur Untersuchungen durch, die von der Polizei oder Staatsanwaltschaft angeordnet wurden. Meistens ging es um Fragen wie Vaterschaft oder Familienzusammenführung, und diese Art Untersuchung wurde in der Regel direkt vom Kriminaltechnischen Center oder dem Rechtsmedizinischen Institut angefordert. Glücklicherweise war ihr jedoch eine Forensische Genetikerin eingefallen, die ihr einen großen Gefallen schuldete.
Und Irmelin war auch nur ein kleines bisschen wütend gewesen, als Linnea sie vom Hamburger Bahnhof aus zu Hause anrief. Und falls sie sich darüber gewundert hatte, dass Linnea ungewohnt direkt und zugleich wortkarg gewesen war, dann hatte sie es nicht gezeigt.
»Ich möchte, dass du einen alten Fall heraussuchst und ihn noch einmal analysierst«, hatte Linnea gesagt. »Ich weiß nicht, ob ihr Archive mit alten Akten habt oder ob sie irgendwo im Politigården oder im Kriminaltechnischen Center im Keller liegen, aber das kannst du ja bestimmt herausfinden.«
Darüber hatte Irmelin nur gelacht.
»Wie alt?«
»Fünfundzwanzig Jahre. Das schaffst du doch mit links.«
»Es ist doch immer wieder schön, von dir zu hören«, meinte Irmelin ironisch. »Und das war alles?«
»Nein. Ich komme mit einer frischen Probe, die ich dir später vorbeibringe, damit du sie abgleichen kannst.«
»Jetzt gehst du aber wirklich zu weit.«
»Bitte!«, flehte Linnea. »Man hat schließlich nicht jeden Tag die Chance, eine international gesuchte Terroristin und Waffenhändlerin zu überführen. Außerdem ist es eine persönliche Angelegenheit.«
Anschließend war Linnea in den Zug nach Kopenhagen gestiegen. Fünf Stunden mit der Bahn, während deren es ihr gelungen war, ihren Kopf völlig von allen bösen Gedanken freizuhalten und nur aus dem Fenster zu starren; jedes Gefühl und jede Reaktion zu verleugnen. Vom Hauptbahnhof hatte sie ein Taxi zum Teilum-Gebäude genommen, wo sie ihre Probe in der Abteilung für Forensische Genetik abgeliefert hatte. Anschließend war sie durch die verlassenen Gänge zurück in die Vorhalle gelaufen. Sie hatte nicht vor, nach Hause zu fahren, und ging stattdessen in ihr Büro. Sie wollte arbeiten. Den Computer einschalten und sich in Arbeit stürzen. Egal welche. Einfach nur den Kopf mit etwas anderem beschäftigen.
Aber weiter als bis in die Vorhalle war sie nicht gekommen. Kaum dass sie aus dem Aufzug gestiegen war, erwischte es sie. Genau dort erreichte die Reaktion sie. Verspätet, aber mit umso größerer Wucht.
Sie konnte nicht mehr. Ließ sich auf den Boden gleiten. Starrte mit leerem Blick vor sich hin, ohne zu wissen, wie viel Zeit vergangen war. Bis Thor endlich auftauchte.
Sie konnte sehen, wie er vor den Glastüren des Gebäudes innehielt. Er hatte sie entdeckt, kam aber nicht durch die verschlossene Tür. Sie konnte nicht hören, was er ihr auf der anderen Seite der Scheiben zu sagen versuchte. Er nahm sein Handy und wollte ihr irgendetwas zeigen, aber sie verstand nicht, was er von ihr wollte. Sie konnte nur den Mund öffnen und die Worte formen: »Sie hat versucht, mich umzubringen!«
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D ie Kälte verwandelt meinen Atem in kleine Wolken, aber mein Körper wird allmählich warm. Der Schlafsack raschelt jedes Mal, wenn ich mich bewege. Das Zeitungspapier isoliert mich zusätzlich,
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