Bewahre meinen Traum
sie etwas zu sagen hätte. Wussten sie nicht, dass sie überhaupt keine Ahnung von nichts hatte? Sie war sich nicht mal sicher, ob sie den Wäschetrockner korrekt beladen hatte.
Mit klappernden Flip-Flops ging sie zur Tür.
„Hey, Daisy.“
Wie erstarrt schaute sie ihren Besucher an. Es war Julian Gastineaux, den sie letzten Sommer kennengelernt hatte. Damals, als sie nur ein Highschool-Mädchen gewesen war. Das kam ihr unendlich lange her vor. Sie hatte sich so sehr verändert, es war ein Wunder, dass er sie überhaupt erkannte.
Julian war vermutlich der heißeste Junge, der je das Licht der Welt erblickt hatte. Und ein Jahr später war es noch genauso. Er war groß und schlank, hatte einen afroamerikanischen Vater und die hellen Augen seiner weißen Mutter, dazu ein ganz eigenes Lächeln, bei dem jedes Mädchen sofort die Titelmelodie eines Liebesfilms im Kopf hatte.
Auch Daisy hörte sie jetzt, ein köstliches Klimpern einer Akustikgitarre, das sie aus ihrer Schockstarre riss. Ohne es bewusst zu wollen, erwiderte sie sein Lächeln, und eine winzige Sekunde lang fühlte sie sich wie ihr altes Ich – jung, flirtig, selbstbewusst, wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter.
„Julian.“ Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um ihn zu umarmen. Und natürlich zerstörte das sofort jegliche Illusion von Normalität, denn zwischen ihnen befand sich ihr Bauch in der Größe eines VW-Käfers. Aber sie war längst über das Stadium hinaus, in dem ihr Zustand ihr peinlich war. Sie hatte gemerkt, dass die Menschen es entweder akzeptierten oder nicht, und sie konnte nichts dafür oder dagegen tun. „Komm rein“, sagte sie und trat zur Seite. „Ich wusste, dass du zur Hochzeit deines Bruders kommen würdest, aber ich hatte nicht erwartet, dich schon so früh wiederzusehen.“
„Connor hat mir diesen Sommer wieder einen Job besorgt. Ich muss fürs College sparen.“
„Er muss dich auf meinen Anblick vorbereitet haben“, bemerkte sie. „Du reagierst ziemlich cool.“
„Ja, er hat es mir erzählt. Und ich bin immer cool, das weißt du doch.“
Das stimmte. Wenn Julian nicht herausgefunden hätte, wie man Unangenehmes wegsteckte, wäre er schon vor langer Zeit implodiert. Seine Geschichte könnte sich kaum mehr von ihrer unterscheiden. Ein großer Teil davon war ein tiefschwarzer Albtraum. Er war bei seinem Vater aufgewachsen, einem Professor an der Tulane University – einem Raketenwissenschaftler, um genau zu sein. Als Julian noch ein Junge war, war sein Dad getötet worden. Julian war zu seiner Mutter gezogen – die auch die Mutter von Connor Davis war –, einem aufstrebenden Filmsternchen, die die Vernachlässigung von Kindern erfunden zu haben schien. Neben ihr sah Daisys Mutter aus wie die reinste Mary Poppins.
Das Überraschende an Julian war, dass er von alldem nicht total zerstört worden war, wie es wohl den meisten Kindern gegangen wäre. Er war zur Schule gegangen und hatte alle Klassen scheinbar ohne große Anstrengungen und mit guten Noten bestanden. Wenn es irgendetwas Seltsames an ihm gab, irgendeinen Makel in seiner Persönlichkeit, dann seine Sehnsucht danach, körperliche Risiken einzugehen. Während die meisten Jugendlichen in seiner Lage zu Drogen gegriffen hätten, war seine Droge pures Adrenalin. Alles, was mit großen Höhen oder Geschwindigkeiten zu tun hatte, zog ihn magisch an. Wenn Daisy sich recht erinnerte, war der schönste Moment für ihn letzten Sommer gewesen, als er einen schwierigen Felsen in den Shawangunks flussaufwärts in New Paltz bezwungen hatte.
Sein Leben unterschied sich radikal von Daisys. Bevor sie nach Avalon gezogen war, hatte sie eine Schule in Manhattan besucht, die so exklusiv war, dass die Leute ihre ungeborenen Kinder schon auf die Warteliste setzen ließen. Julian hingegen war im Kielwasser seiner Mutter herumgeschlingert und hatte die Highschool in Chino, Kalifornien, beendet. Ein mies bezahlter Job und am Wochenende surfen – das war die Zukunft, die ihn eigentlich erwartet hätte, doch Julian hatte ein Ass im Ärmel: seinen Bruder Connor, der an ihn glaubte. Dank ihres Dads lernte Daisy gerade, wie wertvoll das war – wenigstens eine Person zu haben, die an einen glaubte und einem vertraute. Dann fühlte man sich, als ob man alles schaffen könnte.
„Du wirst also der Trauzeuge sein“, sagte sie.
Er streckte die Arme wie ein Showmaster aus. „Das hat man mir gesagt.“
Wow, dachte sie. Diese Schultern. Diese Wangenknochen. Das Lied spielte wieder
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