Bewahre meinen Traum
noch flirten wollte, obwohl sie dick wie ein Haus war. Dann zwang sie sich, realistisch zu sein. „Cornell ist das schwerste College, das es gibt. Du wirst schwer damit beschäftigt sein, dich in deinen Büchern zu vergraben.“ Außerdem gab es da noch die Kleinigkeit von ungefähr fünftausend verfügbaren, nicht schwangeren Studentinnen, aber Daisy nahm an, dass er das von alleine herausfinden würde.
„Wie ist es mit dir?“, fragte er.
„Was soll mit mir sein? Hallo, ich bin schwanger.“
„Es ist doch nicht verboten, ein Kind zu haben und noch etwas anderes zu machen.“
Sie winkte ihn zum Computer hinüber und startete eine Präsentation von ihren Fotos. „Ich mache einen Onlinekurs für Fotografie.“
Julian schaute anerkennend auf den Monitor mit ihren Bildern. „Die sind gut.“
Daisy liebte es, zu fotografieren. Schon als kleines Kind hatte sie alles mit ihrer kleinen Ritschratsch-Kamera festgehalten – Familienmitglieder, Blumen und Bäume, Menschen und ihre Nachbarschaft in der Upper East Side, wo sie aufgewachsen war. Als sie älter wurde, hatte sie angefangen, mit verschiedenen Stilen und Methoden zu experimentieren. Sie war sehr gut darin, kleine, aber wichtige Details aufzunehmen, die die meisten Menschen übersahen. Die rostige Türangel eines Scheunentors erzählte in Daisys Bildern eine ganze Geschichte. Sie fing eine ganze Jahreszeit ein, indem sie die Herbstblätter fotografierte, die auf dem Wasser schwebten, beleuchtete eine Welt des Schmerzes in dem Gesicht ihres Vaters, als er sich über seinen Zeichentisch beugte, oder sah die Hoffnungen und Träume ihres Bruders in der Art, wie seine schmutzigen Finger eine Baseballkeule umklammerten.
Sie holte auch jetzt ihre Kamera raus; sie hatte Lust, ein paar Fotos von Julian zu machen. Er hatte immer gute Miene dazu gemacht, ihr Zielobjekt zu sein. Jetzt konzentrierte sie sich auf die scharfen Linien seines Profils, und dann auf die schmalfingrige Hand, die auf der Stuhllehne ruhte, während er sich zum Computer vorbeugte. Er strahlte eine gewisse Athletik aus, eine kinetische Energie, selbst wenn er total entspannt war. Sie würde es ihm vermutlich niemals sagen, aber er raubte ihr den Atem. Wie konnte ein Mensch gleichzeitig so schön und so verletzt sein?
Die Präsentation war auf Zufallsmodus eingestellt, und Bilder aus dem letzten Winter kamen auf. Daisy hatte eine ganze Serie von Sonnet Romano geschossen. Julian reagierte nicht direkt, doch durch die Linse ihrer Kamera konnte Daisy die Veränderung in ihm sehen. Sonnet war supersüß. Und ebenfalls Mulatte, wie er.
„Meine beste Freundin“, erklärte Daisy. „Sie verbringt den Sommer bei ihrem Vater, kommt aber rechtzeitig zur Hochzeit zurück. Ich kann es gar nicht erwarten, euch vorzustellen. Du wirst dich sehr wahrscheinlich auf der Stelle in sie verlieben. Das tut jeder.“
Er setzte sich und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Ich bin nicht jeder. Wer ist das?“ Er drückte auf Pause und fror das Bild ein, einen extrem schönen Schuss eines jungen Mannes im Schnee.
Das war eines von Daisys besten Bildern. Der Junge hatte die winterlichen, nordischen Züge einer gezeichneten Märchenfigur – glatte, weißblonde Haare, ausgeprägte Gesichtszüge, seeblaue Augen. Er stand in einem schneebedeckten Park mit kahlen Bäumen im Hintergrund. Ein durchsichtiges Rauchband von einer unsichtbaren Zigarette bildete einen unvollständigen Heiligenschein über seinem Kopf.
„Das ist Zach“, sagte sie. „Zach Alger. Ein weiterer Freund, den ich kennengelernt habe, nachdem wir hierhergezogen sind.“ Sie hätte noch so viel mehr sagen können, aber das tat sie nicht, weil sie dann vermutlich anfangen würde, zu weinen. Anders als Sonnet hatte Zach sich nach dem Schulabschluss nicht zu Größerem aufgemacht.
„Wo ist er jetzt? Werde ich ihn kennenlernen?“, wollte Julian wissen.
Sie schüttelte den Kopf. „Er hat sich … ein paar Schwierigkeiten eingehandelt und ist weggezogen. Ich glaube, er arbeitet auf der Rennstrecke in Saratoga.“
„Was für Schwierigkeiten?“
„Das ist kompliziert. Und auch nicht Zachs Schuld. Sein Vater war süchtig nach Onlinewetten, und Zach war der Einzige, der davon wusste. Er hat sich Geld genommen, um die Schulden seines Vaters zu bezahlen. Jetzt sitzt sein Vater im Gefängnis, und Zach ist ganz auf sich allein gestellt. Es ist schon erstaunlich, was Kinder so für ihre Eltern tun. Ich würde nie zulassen, dass mein Kind so etwas für
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