Bewegt Euch
Karrieredruck, Beziehungsdruck, Erziehungsdruck, Sicherheitsdruck, Ego-Druck gesellt sich der Bewegungsdruck. So zieht sich ein unsichtbarer Graben durch das Land: Hier die Freaks, dort die Muffel.
Dieser Graben teilt das Land in zwei quasireligiöse Lager: Hier die mageren, lebensverneinenden, asketischen Spaßbremsen, dort die zufriedenen, beleibten Genießer. Der einzige Unterschied sei doch, dass der Sportler gesünder sterbe, sagen die Ablehner und malen ein Bild von gleichgeschalteten Geistesgestörten, die früh am Sonntagmorgen mit irrem Blick durch die Gegend rennen, beseelt von kranken Schönheitsidealen.
Selbst kluge Menschen machen das Diskriminierungsspiel mit. Die wunderbare Alltagsphilosophin Sibylle Berg etwa fin det, »dass wir zum Sport genötigt werden, wie ungezogene Schulkinder«, dass »der Terror immer stärker« werde, »die Vor schriften, die Übergriffe vom Staat in Privates«. Eine Gesellschaft, im Würgegriff von »aggressiven Sportfanatikern«, die »ihr ständig mit Wasserflaschen herumrennt, die ihr euch unsterblich wähnt«. Fazit: »Man wird auch mit der Einhaltung aller Regeln sterben.« Da hat die wütende Autorin recht.
Ansonsten leider nicht. Es gibt keinerlei Gesetze, die Sport vorschreiben. Experten streiten sich sogar, ob Freizeitsportler mit ihren Meniskusschäden, Bänderrissen und Skiverletzungen die Krankenkassen nicht teurer kommen als Sportmuffel mit Diabetes und Verstopfung. Wer weder Promi- noch Fitness-Zeitschrift abonniert hat, bleibt unbehelligt vom Bewegungsdruck. Zumal die Deutschen gelernt haben, passiven Fernsehsport und Selbstbewegen säuberlich zu trennen. Keiner muss irgendwas, aber es gäbe ein paar nachdenkenswerte Gründe, abends mal einen Spaziergang zu machen.
Es ist an der Zeit, den Eifer beider Seiten ein wenig herunterzuregeln und den Spaß neu zu entdecken.
3 Vom Glück des Bewegens
Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
Johann Wolfgang von Goethe
Mein alter Kumpel Gerd redet seit Jahren von Alaska. Er will raus, noch mal von vorn anfangen, seinen Körper spüren, kalte, klare Luft. Gerd trägt locker 30 Kilogramm zu viel auf den Rippen, was angesichts seines Bierkonsums bemerkenswert wenig ist. Weil er sich nicht mehr bücken mochte oder konnte, hat Gerd eine interessante Technik entwickelt, seine Unterhose an- und auszuziehen. Mit einer Hand hält er sich im Türrahmen fest, biegt ein Bein nach hinten und wirft mit der anderen Hand die Boxershorts wie ein Lasso um den Fuß, um das Textil von dort weiter nach oben zu ruckeln. Gerd fühlt sich gleichwohl topfit und ist fest davon überzeugt, schon morgen als Hundeschlittenpilot in Anchorage brillieren zu können. »Klar«, sage ich, »nee, klar, Gerd, das wird.«
Für Gerd bedeutet Glück vor allem: draußen sein, frei sein. Für mich auch: Zugegeben, der Grunewald ist nicht Alaska. Nicht mal Schweden. Aber eine Stunde im Berliner Stadtwald ist immer noch mehr als nie Alaska. Am Schlachtensee bin ich der Freiheit näher als auf dem Sofa. Hier ist garantiert mehr Glück zu finden als in teuren Hotels oder bei Unterhaltungsveranstaltungen, die »Erlebnis« im Titel tragen.
Wer sich draußen bewegt, hat wirklich Abenteuer zu bestehen. Gut, statt Grizzlys lauern an der Saubucht nur Wildschweine. Aber wer je seinen Autoschlüssel auf einem langen Auslauf verlor, wer morgens früh Schübe von Paranoia bekam, weil es im Unterholz merkwürdig raschelte, wer je mit ausgedörrter Kehle nach einem Tropfen Wasser lechzte, der weiß, was Leben in der Wildnis bedeutet. Zumindest für ein Weilchen verabschiede ich mich von Handy, Taxi und ADAC-Rückholservice.
Der Blick zurück in mein bewegtes Leben fördert weit mehr bewegende Momente zutage, als ich erwartet hätte. Große Momente, mit einer hysterischen Note, mit Schauern und Tränen und Glucksen und Grinsen – exakt das, was ich bei meinem ersten Triathlon erlebt habe. Oder die kleinen Momente, wie ein Hauch, die schon wieder vorbei sind, sobald man sie spürt.
Die Glücks-Matrix von Eckart von Hirschhausen hat mir geholfen, diese Momente zu kategorisieren. Ich habe seinen fünf zwei weitere Glücksarten hinzugefügt, die mir wichtig sind: das Glück der Besinnung und das Glück des Bestimmens. Bewegen bedient alle sieben Arten, meist sind mehrere gleichzeitig im Spiel. Glück ist wie Gold. In reiner Form kommt es selten vor, meist klebt noch was daran.
Was diese Momente gemeinsam haben: Bewegung, meist
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