Bewegt Euch
Krankengymnast, Yogalehrer oder Aqua-Fitness- Trainerin – alle betonen den Wert von Stabilisationsübungen. Liegestütz, Kniebeugen, Sit-ups, seitlich, rückwärtig oder bäuchlings ausgeführter Stütz bis der Körper bebt, sie alle dienen dem selben Zweck: Diese Übungen geben dem Halteapparat Kraft, jener Zone des Leibes, die durch Sitzen am Schreibtisch, durch Herumhängen, Lungern und Fläzen bei jedem Mitglied der Wohlstandsgesellschaft verkümmert ist.
Ja genau, wir reden von Jane-Fonda-Gymnastik, von Wiederholungen auf Schaumstoffmatten, von Exerzitien nah an der Koronarsportgruppe. Mit stabilisiertem Rumpf lässt sich jeder Sport leichter, länger, lockerer bewältigen. Das Problem: Ich habe keine Lust. Ich langweile mich. Ich sehe albern aus. Gut bin ich auch nicht. Wieder einmal schlägt Gefühl besseres Wissen.
Nur ungefähr zweimal im Monat nicht, meist montags oder donnerstags. Ich richte mir die Arbeit so ein, dass ich meinen Kleinen von der Schule abholen und zum Schwimmtraining bringen kann. Er soll Kraulen von Anfang an richtig lernen. Heike wird ihn nicht bekommen.
Der undankbare Knirps aber ist nicht von Vorfreude durchdrungen. Ich fühle mich rabenartig, weil ich die zarte Kinderseele quäle. Ich halte Schwimmen für einen idealen Sport, um Haltung, Ausdauer und Technik zu lernen. Der Kleine nicht. Um mich zu entlasten, habe ich mir eine Selbstbestrafungs-Strategie zurechtgelegt: Wenn mein Sohn sich überwinden muss, dann soll der Vater solidarisch sein. Ich absolviere derweil mein verhasstes Stabilisationstraining.
Mein Sohn hat nicht die geringste Ahnung, was sein Erzeuger durchmacht, während er mit zunehmender Fröhlichkeit durchs Becken pflügt. Theoretisch habe ich doppeltes Glück, weil ich mein schlechtes Gewissen entlaste und orthopädisch sinnvoll trainiere. Praktisch tut alles weh.
Direkt hinter der Schwimmhalle liegt ein kleines Leichtathletik-Stadion. Wenn ich zwei Bahnen ein- und zwei weitere auslaufe, bleiben mir 35 Minuten für mein Stabi-und-Technik-Programm. Die ersten 100 Meter absolviere ich Übungen wie Knieheben, in der Kurve wird locker getrabt, die 100 Meter auf der Gegengeraden ein Steigerungslauf hingelegt, der im Sprinttempo endet, in der Kurve wieder getrabt. Nach jeder Runde kommt es dann zum Äußersten: Stütz links, Liegestütz, Stütz rechts, Sit-ups, Stütz Rücken, Kniebeuge, Stütz vorn. Dauert exakt fünf Minuten. Die Kunst besteht darin, das Hirn auf Autopilot zu schalten. Nicht denken, nicht fühlen oder grollen. Keep calm and carry on.
Ich hasse diese Übungen, und ich liebe sie als Zen. An guten Tagen gelingt es, mein Hirn zu nullen, alle Gedanken auf widerspruchsloses Erledigen zu lenken. Nachweis der Leere: In den kurzen Pausen starre ich nur stumpf auf meine Schuhe. Ich bin weit, weit weg. Manchmal vergesse ich sogar die Uhr. Die Ausflüchte. Das Ziehen der Bauchmuskeln. Ja, es gibt ein Leben ohne Denken. Bis heute sehne ich mich nicht gerade nach diesen blöden Stabi-Übungen, aber ich habe Frieden gemacht. Hinterher holen mein Kleiner und ich übrigens dicke Burger vom Drive-in.
Das Glück des Bestimmens
Wo das Dogma beginnt, ist das Leben am Ende.
Ronald Grossarth-Maticek
Mal ehrlich: Eigentlich habe ich nichts zu sagen. Permanent entscheiden andere über mich. Früh aufstehen, weil Dienstreise, nett sein, weil Job in Aussicht, langweiliger Business Lunch, obwohl Lust auf Currywurst mit Fritten. Alle reden von Autonomie, aber ich werde den ganzen Tag fremdbestimmt. Ein Leben in der Gefangenschaft von Pflichten, Konventionen und Erwartungen anderer. Kein Wunder, dass depressive Erkrankungen derart zunehmen. Ein Trend bei der Therapie de pressiver Störungen: Bewegen, am besten gemäßigtes Ausdauer training, wie der Soziologie-Professor Ulrich Bartmann in mehreren Büchern darlegt.
Die Erklärung ist denkbar einfach: Wer sich bewegt, der ver spürt unmittelbar Kontrolle über sich und sein Leben. Wie Ma len oder Musizieren erzeugt ein lockerer Trab sofortige Folgen: Atmen, Strecke machen, später auch schwitzen und erschöpft sein. In einer hochkomplexen Welt sorgt das Einfache und Nachvollziehbare für Entspannung. Ich bestimme jeden Tag wieder, ob ich mich in den See stürze oder drum herumlaufe, ob ich Gewichte stemme, Frisbee spiele oder mit dem Rad zum Interview fahre. Keiner quatscht mir rein. Ich bin der Bestimmer über mein Leben, jedenfalls in diesen Momenten. Und diese Macht über mich und mein Handeln erzeugt ein dauerhaft
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